„Griteria“: Das große Geschrei zu Ehren Marias
Am Abend des 7. Dezembers um 18.00 Uhr steigen in Nicaragua Raketen in die Luft, und vor vielen Häusern bilden sich lange Schlangen von Menschen, die darauf warten, in die „Griteria“-Gastgeberhäuser eingelassen zu werden. In Gruppen von fünf bis zehn Personen werden die Besucher hereingebeten. Die „Griteria“ ist ein nicaraguanisches Marienfest, das weltweit einzigartig ist.
Carlos Rodriguez
Die Gäste sammeln sich vor den von vielen Familien eigens eingerichteten Hausaltären und rufen inbrünstig: „Quien causa tanta alegria?“ („Wer verursacht so viel Freude?“) „Die Empfängnis von Maria“, lautet die Antwort der Familien. Vor den liebevoll mit Lichterketten, Blumen und Palmwedeln dekorierten Marienstatuen werden sodann lautstark Lieder zu Ehren der Jungfrau angestimmt.
„Die Mütter sorgen für Bewegung“
„Bei uns in Lateinamerika sorgen immer die Mütter für Bewegung. So sorgt auch die Mutter Gottes dafür, dass die ganze Familie zusammenkommt. Dieser Feiertag schafft zumindest für einen Tag einen Ausgleich, einerseits zwischen Reich und Arm und andererseits zwischen den Religionen. Hierzulande gibt es inzwischen ja viele evangelische Gemeinschaften, aber zur Griteria besucht fast jeder seine Nachbarn und singt für die Jungfrau“, sagt der Pfarrer und Historiker Camilo Diaz aus Managua. Die Konfession der Besucher spielt also eine untergeordnete Rolle.
Klaus Brunner
364 Tage im Jahr gleicht die Hauptstadt Nicaraguas mit ihren Wachmännern, vergitterten Fenstern und Stacheldrähten mehr einem Hochsicherheitstrakt als einer Metropole. Doch am Abend des 7. Dezembers bleiben die Türen offen.
Volksfest und Hilfe für die Armen
Viele katholische Familien, die es sich leisten können, öffnen in dieser Nacht ihre Häuser für die Öffentlichkeit. Wie bei vielen religiösen Anlässen verbindet sich hier lateinamerikanische Volksfeststimmung mit tiefer Spiritualität. Musikgruppen - „Chicheros“ - ziehen durch die Straßen, allerorts werden Böller und Feuerwerk gezündet, und die Pilger touren fröhlich von Haus zu Haus. Die Marienlieder stammen noch aus der Kolonialzeit, in der sich indigene Traditionen und der Katholizismus vermischt haben.
Alexander-Gomez
„Es lebe die Jungfrau!“, rufen die Besucher zum Abschied und nehmen ihre Geschenke in Empfang: Plastikbehälter „made in China“, Buntstifte, Seife, Süßigkeiten oder eine Packung Reis - was man eben so braucht. Die Art der Gaben hat sich im Lauf der Zeit stark gewandelt, ihre Qualität richtet sich nach dem Budget der Gastgeber. Wegen der Geschenke ziehen auch viele Nichtkatholiken von Haus zu Haus. Über diesen Opportunismus wird jedoch großzügig hinweggesehen, zumal es an diesem Tag auch darum geht, den Armen zu helfen.
Jeder ist willkommen
In vielen Häusern bekommt man einen Becher Limonade, kalten Kakao oder kleine, traditionelle Speisen serviert. Die eine Gruppe zieht weiter, die nächste bittet um Einlass. Jeder ist willkommen, solange er der Jungfrau huldigt. Das geht so lange, bis alle Geschenke verteilt sind, um Mitternacht steigen dann wieder Raketen auf. „Das Fest bewegt das ganze Land, einerseits religiös, anderseits wirtschaftlich. Die vielen kleinen, informellen Unternehmen - zum Beispiel jene, die Süßigkeiten oder Kunsthandwerk herstellen -, all diese Geschäfte machen jetzt einen ordentlichen Umsatz“, sagt Pfarrer Diaz.
Carlos-Rodriguez
Hoffnung auf ein Wunder
Für nicaraguanische Familien ist das Ausrichten einer „Griteria“ stets mit der Bitte um „Hilfe von oben“ verbunden. Manch einer nimmt sogar einen Kredit auf, um sich einen Hausaltar mit allem Drum und Dran leisten zu können. „Ich habe einen Bruder, der ist Alkoholiker. Eine seiner Nichten hat irgendwann die Jungfrau Maria um Hilfe gebeten. Mein Bruder trinkt heute keinen Tropfen mehr. Aber die Griteria machen wir immer noch, aus Dankbarkeit“, sagt die Krankenschwester Lucy Rodriguez. Sie hat heuer zum 13. Mal ihr Haus für die schreienden Pilger geöffnet, die Kosten teilt sie sich mit ihren acht Geschwistern.
Alle sechs Stunden ein Feuerwerk
Lucys Marienstatue ist über hundert Jahre alt und wurde von Generation zu Generation weitergegeben. „Mir hat meine Mutter gezeigt, wie man die Griteria schreit und im Familienkreis die ‚Purisima‘ betet.“ Bei der „Purisima“ wird am Folgetag - verhältnismäßig ruhig - der unbefleckten Empfängnis gedacht. Ein ordentliches Feuerwerk alle sechs Stunden darf bei aller Besinnlichkeit dennoch nicht fehlen.
Eugenio-Quintana
Der Kult um die Jungfrau geht auf spanische Franziskaner zurück, die ihn im 16. Jahrhundert nach Mittelamerika gebracht haben. Das Fest in seiner heutigen Form wird auf das Jahr 1857 datiert, als Monsignore Carranza aus Leon nach einem Vulkanausbruch die Gläubigen dazu animierte, Hausaltäre aufzubauen.
„Griteria“ in aller Welt
Vom nördlichen Nicaragua aus hat sich die „Griteria“ in verschiedenen Varianten auf das ganze Land ausgebreitet. Heute wird sie überall dort begangen, wo es eine größere Anzahl von nicaraguanischen Auswanderern gibt, etwa in den USA und Costa Rica. „Die Marienfeiertage sind für jeden Nicaraguaner sehr wichtig, egal wo auf der Welt er wohnt. Am 7. Dezember werden sie alle nostalgisch“, sagt Diaz. Um den wenigen in Österreich lebenden „Nicas“ das Heimweh ein wenig zu erleichtern, hat die nicaraguanische Botschaft in Wien vergangene Woche auch eine kleine „Griteria“ veranstaltet.
Klaus Brunner, für religion.ORF.at
Link:
- Chicheros (YoutTube)