Indien: Dalit-Frauen oft Opfer von sexueller Gewalt

Alle 22 Minuten wird in Indien eine Frau vergewaltigt, das besagt eine Regierungsstatistik von 2015. Überproportional betroffen sind Frauen aus niederen Kasten und Angehörige der Dalit, der sogenannten „Unberührbaren“.

Im Dezember 2012 wurde in Neu Delhi eine 23-jährige Inderin nach einer Gruppenvergewaltigung aus einem fahrenden Bus geworfen. Im Krankenhaus erlag sie ihren Verletzungen. Fast fünf Jahre dauerte es, bis im Mai 2017 der Oberste Gerichtshof die Todesstrafe der Täter bestätigte. Der Fall erregte weltweit Aufmerksamkeit.

Obwohl im März 2013 die Sexualstrafgesetze verschärft wurden, hat sich bisher nur wenig geändert: Im Juni 2014 wurden zwei minderjährige Mädchen in einem nordindischen Dorf vergewaltigt und an einem Mangobaum erhängt. Im vergangenen Mai wurde ein neun Monate altes Baby aus einer fahrenden Autorikscha geworfen, bevor mehrere Männer die Mutter vergewaltigten. Zwei Beispiele von vielen.

Gesetze „häufig nicht umgesetzt“

Kritiker werfen den Behörden Untätigkeit vor. Oft leugnen oder verharmlosen Politiker das Problem, zeigen sich Polizisten und Ärzte desinteressiert gegenüber Opfern. Als in Bangalore im Südwesten Indiens in der vergangenen Silvesternacht Frauen sexuell belästigt wurden, gab ihnen ein Minister Mitschuld wegen ihres westlichen Kleidungsstils. Gesetze würden häufig nicht umgesetzt, sagte die Religionswissenschaftlerin, Ethnologin und Künstlerin Katharina Kakar, die in einem südindischen Dorf lebt, gegenüber ORF Religion.

Manchmal werden Täter mit exemplarischen Strafen belegt. Angst vor Konsequenzen scheinen die Täter nicht zu haben. Im Mai 2017 wurden in einem indischen Dorf im Bezirk Rampur zwei Frauen am helllichten Tag vor Dutzenden Zeugen sexuell bedrängt. Die Umstehenden filmten die Tat, anstatt einzuschreiten.

Kriminalpsychologe Rajat Mitra hat über einen Zeitraum von 12 Jahren mit vielen Vergewaltigern in Untersuchungshaft oder Gefängnissen gesprochen, wie die „Zeit“ vor einigen Jahren berichtete: Die Taten werden nicht als Verbrechen angesehen, sagte er über die Täter. Die Männer seien unfähig, sich Sexualität anders denn als aggressiven Akt vorzustellen. Eine normale Beziehung, das Werben um eine Frau, sei aus ihrem Blick geraten.

Schweigen aus Angst

Viele vergewaltigte Frauen schweigen aus Angst vor sozialer Ächtung: In den Augen der Gesellschaft haben sie eine „Schande“ zu tragen. Laut einer Regierungsstatistik von 2015 wird in Indien alle 22 Minuten eine Frau vergewaltigt, doch über die Dunkelziffer sagt die Statistik nichts aus. Die offiziellen Zahlen sprechen dagegen, dass Vergewaltigungen in Indien häufiger vorkommen als in anderen Ländern.

Eine Vergewaltigungsgesellschaft sei Indien nicht, sagte Kakar. Allerdings: „Kulturspezifisch ist diese große Gewalt, die sich entlädt. Dass so viele Gruppenvergewaltigungen stattfinden; die Brutalität: ob nun Eisenstangen verwendet werden oder die Gesichter mit Säure verätzt werden. Das ist nicht nur bei Vergewaltigungen so, sondern generell bei Gewalt gegen Frauen.“

Frauen in Indien demonstrieren gegen sexuelle Gewalt

Reuters/Anindito Mukherjee

Frauen demonstrieren in Indien gegen sexuelle Gewalt

Kultur der Frauenbenachteiligung

Hinter der Gewalt steht Ungleichheit: Die sexuelle Gewalt ist Ausdruck einer Kultur der Frauenbenachteiligung, die in Indien immer noch Alltagsrealität ist: So erlauben es verfassungswidrige Gerichtsurteile Männern, den Bewegungsradius ihrer Frauen einzuschränken.

In der herkömmlichen Ökonomie der indischen Familie werden Mädchen oft als Last gesehen. Auch wegen der Praxis der Mitgift, die trotz Verboten nach wie vor gezahlt wird. Weibliche Föten werden oft gezielt abgetrieben – verbotenerweise. Auch der öffentliche Raum ist frauenfeindlich. Selbst an Toiletten für Frauen fehlt es, besonders in den Dörfern.

Dalit-Frauen als „unrein“ gesehen

Unter den Vergewaltigungsopfern sind überproportional viele Frauen aus niederen Kasten und der Gruppe der Dalits, der sogenannten „Unberührbaren“, vertreten. Sie würden als unrein, verachtenswert und „leicht zu haben“ betrachtet, erläuterte Religionswissenschaftlerin Kakar.

„Die Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit sind im hinduistischen Kontext stark durch Kastenvorstellungen geprägt“, sagte sie: „Je höher die Kaste, je reiner der Mensch.“ Außerdem gäbe es derzeit einen Trend zum religiös legitimierten Hindu-Nationalismus – und damit zu einer weiteren Vermännlichung der Gesellschaft. Das verschlechtere die Lage indischer Frauen weiter, sagte Kakar: „Ich befürchte, dass das zu exzessiver Gewalt in den nächsten Jahrzehnten führen wird. Sowohl zwischen Muslimen und Hindus als auch, was die Wertvorstellungen anbelangt, wie eine Frau sich zu verhalten hat, und was die richtigen Werte von Weiblichkeit sind – und Männlichkeit genauso.“

Polizei reagiert nicht

Trotz verschärfter Strafen für Vergewaltigungen und zusätzlicher Gerichte, Änderungen und Versprechen, habe sich die Strafverfolgung nicht grundlegend verbessert, so die Einschätzung von Ranjana Kumari, Aktivistin und Chefin des Centre for Social Research in Indien, gegenüber der „Deutschen Presse-Agentur“: „Die Polizei ist nicht gut darin, Gesetze durchzusetzen.“ Sicherheitskameras an öffentlichen Orten funktionierten ebenso wenig wie die App „Himmat“, mit der Opfer der Polizei ihren Ort übermitteln können. Die Polizei reagiere häufig schlichtweg nicht.

Allerdings schreitet partiell auch die Modernisierung Indiens, die Emanzipation der Frau voran. Es gibt Umbrüche in der hergebrachten, hierarchischen Ordnung. Junge indische Frauen ringen um Bildungschancen und Selbstbestimmung. „Vergewaltigung wird als Waffe im Krieg eingestuft“, bemerkte die Schriftstellerin Advaita Kala gegenüber der „Zeit“: „Könnte es sein, dass Vergewaltigung auch als Waffe im Geschlechterkrieg eingesetzt wird?“ Sexuelle Gewalt wäre demnach eine Art Rache an Vertreterinnen dieses Fortschritts.

Politischer Kampf gegen Gewalt

Jedes Jahr werden in Indien fast 40.000 Vergewaltigungen und sexuelle Belästigungen angezeigt. Die Zahl der Anzeigen wegen sexueller Übergriffe nimmt zu. Eine Entwicklung, die nicht nur die städtische Elite betrifft.

Der Kampf gegen die Gewalt müsse auch auf politischer Ebene ausgetragen werden, sagte Religionswissenschaftlerin Kakar. Machtlos sind Indiens Frauen nicht: Wahlen sind ein effizientes Mittel in der indischen Demokratie. Kakar wünscht sich allerdings noch viel mehr Frauen in öffentlichen, auch lokalen politischen Funktionen.

Thomas Frühwirth, für religion.ORF.at

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