Flüchtlinge von 2015: Gemäßigt religiös

Im Herbst 2015 ist vor allem der gebildete, liberale und mäßig religiöse Mittelstand nach Österreich geflüchtet. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des „Wittenstein Centre for Demography and Global Human Capital“ an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Die Erhebung, die im Juni im Auftrag unter anderem des Max-Planck-Instituts als Broschüre auf Deutsch erschien, untersuchte Bildung, Werte und Zukunftspläne der Geflüchteten. Gut 88.000 Personen haben 2015 in Österreich Asyl beantragt, statistische Daten über die Geflüchteten hätten aber bisher weitgehend gefehlt, sagte Judith Kohlenberger, eine Mitautorin der Studie „Geflüchtete in Österreich 2015“ im Interview für die Ö1-Sendung „Religion aktuell“ am Mittwoch.

Flüchtlinge 2015 an der österreichischen Grenze in Nickelsdorf im Burgenland

APA/Helmut Fohringer

Flüchtlinge 2015 an der österreichischen Grenze in Nickelsdorf im Burgenland

Im Herbst 2015 wurden in sieben Notunterkünften in und um Wien rund 500 Menschen aus Syrien, Irak und Afghanistan befragt. Zusammen mit Informationen über engste Familienangehörige wurden Daten über insgesamt rund 1.400 Personen in der Umfrage erfasst.

Religiosität vergleichbar mit Österreich

Die Befragten bewerteten unter anderem ihre eigene Religiosität auf einer Skala von eins bis zehn. Ein großer Teil der Teilnehmenden - überwiegend Musliminnen und Muslime - stufte diese im mittleren Bereich ein (zwischen den Skalawerten drei und acht). 20 Prozent halten sich für wenig bis gar nicht religiös (Skalawerte eins und zwei) und nur elf Prozent für sehr religiös (Skalawerte neun und zehn). „Das Überraschende an diesem allgemeinen Ergebnis ist der direkte Vergleich mit Österreicherinnen und Österreichern aus der gleichen Altersgruppe. Hier zeigt sich nämlich eine sehr ähnliche Verteilung der selbst eingestuften Religiosität“, sagte Kohlenberger.

Steigende Bildung, sinkende Religiosität

Bei der Einstufung der eigenen Religiosität zeige sich ein deutlicher Geschlechterunterschied: „Frauen stufen sich konsistent religiöser ein als Männer“, so Kohlenberger. „Das ist ein Effekt, der über die Weltreligionen in unterschiedlichen nationalen Kontexten – und auch in unterschiedlichen Migrationskontexten – schon vielfach gezeigt wurde.“

„Religiosität nimmt mit steigender Bildung ab, was bisherige Studien bestätigen“, heißt es in einer Informationsbroschüre zur aktuellen Erhebung. „Religiosität ist auch abhängig von der Nationalität“, präzisierte Kohlenberger: „So haben wir herausgefunden, dass syrische und irakische Geflüchtete sich seltener als sehr religiös einstufen als andere Nationalitäten, zum Beispiel Afghanen.“

Solide Bildungsniveaus

Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass die befragten Geflüchteten mehrheitlich solide Bildungsniveaus mitbringen. Diese liegen durchschnittlich höher als bei der Gesamtbevölkerung im jeweiligen Herkunftsland. Viele verfügen über einen höheren Sekundärabschluss wie Matura oder Lehre. „Fast die Hälfte der Befragten aus Syrien und dem Irak hat zum Beispiel eine Sekundarbildung erhalten“, so Kohlenberger. „Die gut Gebildeten – also die Gruppe jener, die mindestens einen postsekundären Schulabschluss haben – machen unter den Syrern 27 Prozent aus. Das ist in etwa der Prozentsatz für die österreichische Gesamtbevölkerung.“

Gebildete meist mobiler

„Migration findet überall auf der Welt höchst selektiv statt“, erläuterte Kohlenberger: „Wer höher gebildet ist, verfügt in der Regel über mehr ökonomische Ressourcen und ist deswegen auch mobiler.“ Das sei vor allem für Arbeitsmigration durch Studien hinreichend belegt. Die aktuelle Erhebung, so Kohlenberger, habe diesen Effekt erstmals für die Fluchtbewegungen von 2015 nachgewiesen.

Studienautorin Judith Kohlenberger

Sandrino Weghofer

Judith Kohlenberger, Mitautorin der Studie

In Österreich haben 2015 vor allem syrische, irakische und afghanische Staatsangehörige um Asyl angesucht. „Ärmere – und meistens sind das auch weniger gebildete – Menschen aus diesen Regionen haben einfach nicht die ökonomischen Mittel, um nach Europa zu flüchten. Sie flüchten entweder innerhalb des jeweiligen Landes oder in die jeweiligen Nachbarländer – im Fall von Syrien zum Beispiel nach Jordanien oder den Libanon“, legte Kohlenberger dar. Die Kosten für eine Flucht nach Europa entspreche einem durchschnittlichen Jahreseinkommen in Syrien – und zwar vor Krieg und Inflation, so die Projektmitarbeiterin.

Potenzial der Geflüchteten nutzen

In der aktuellen Debatte zu Migration und Integration werde zu wenig auf pragmatische, faktenbasierte Lösungen eingegangen, äußerte Kohlenberger. Das Thema werde fast ausschließlich unter dem Schwerpunkt Sicherheit behandelt. „Wir wissen aus unserer Studie, dass Flüchtlinge sehr gute Bildungsniveaus mitbringen“, sagte die wissenschaftliche Mitarbeiterin.

„Wichtig wäre es, dass dieses Potenzial – das Können und die Fertigkeiten, welche Geflüchtete nach Österreich mitgebracht haben – auch erkannt wird und gewinnbringend für alle eingesetzt werden kann.“ Mittlerweile lägen ausreichend Zahlen und Fakten vor, die für die Schaffung von maßgeschneiderten Integrationsangeboten verwendet werden könnten, so Kohlenberger weiter. „Wir schulden das nicht nur den Geflüchteten selbst, sondern auch der österreichischen Bevölkerung – dass sie auf dieses Potenzial, das hier hereingebracht wurde, zurückgreifen kann.“

Die Studie unter dem Kurztitel „Geflüchtete in Österreich 2015“ ist als Erstpublikation aus der fortlaufenden Studie „Displaced Persons in Austria Survey“ (DiPAS) entstanden. Diese Studie ist angesiedelt am Wittgenstein Center for Demography and Global Human Capital, einer Forschungskollaboration zwischen dem International Institute for Applied Systems Analysis in Laxenburg, dem Wiener Institut für Demographie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Wirtschaftsuniversität Wien.

Thomas Frühwirth, für religion.ORF.at

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