Kalachakra: Das Königstantra der Harmonie

Der tibetisch-buddhistische Meister Shar Khentrul Jamphel Lodrö Rinpoche (49) ist für einen tibetischen Mönch ungewöhnlich spät in ein Kloster eingetreten. Später verließ er Tibet, um weltweit Kalachakra, eine spezielle Meditationspraxis, zu lehren. Kürzlich machte er auch in Wien halt.

Der 1968 in Osttibet geborene Mönch sollte bereits als Kind in ein Kloster eintreten, legte sich aber als Zehnjähriger quer - er wollte kein Mönch werden. Erst mit 19 Jahren, nachdem sein Vater gestorben war, begann er, sich seinem Schicksal und dem Willen seiner Eltern zu fügen.

Der Khentrul Rinpoche (beides Ehrentitel) studierte bei 25 Meistern in elf tibetischen Klöstern und ist zwar im Buddhismus verwurzelt, folgt aber mit einer speziellen Meditationspraxis, dem Kalachakra, einem aus seiner Sicht übergeordneten Zugang. Kalachakra wird als Königstantra bezeichnet und von einigen buddhistischen Schulen gelehrt, so auch vom geistlichen Oberhaupt der Tibeter, dem Dalai Lama.

Khentrul Rinpoche

Tibetan Buddhist Rime Institute

Khentrul Rinpoche

Kürzlich war der Rinpoche in Wien zu Gast, um in der Österreichischen Buddhistischen Religionsgesellschaft Seminare über den Kalachakra-Pfad zu halten. Warum er es wichtig findet, sich mit anderen Religionen auseinanderzusetzen, liegt in seiner Biografie begründet.

Kalachakra

Kalachakra ist ein sogenanntes höheres Tantra, das äußere Realitäten wie das Universum mit dem Inneren des Menschen (Kreisläufe im Körper sowie der Geist) in Verbindung setzt. Über die Praxis wird innere Harmonie angestrebt, die sich positiv auf das Umfeld auswirken und letztlich zu einem erleuchteten Zustand führen soll.

Mit Vorurteilen nicht abfinden

Als Kind habe er die in der Region weit verbreiteten Vorurteile gegenüber der traditionellen tibetischen Bön-Religion und auch gegenüber Muslimen mitbekommen. Doch konnte und wollte er sich damit nicht abfinden.

Daher begann er nach seinen buddhistischen Ausbildungen, sich mit diesen Religionen auseinanderzusetzen, später folgte die Beschäftigung mit Hinduismus, Taoismus, Jainismus und den abrahamitischen Religionen. Um Kenntnisse über diese religiösen Traditionen zu bekommen, habe er viele Gespräche mit Professoren geführt, erzählte er religion.ORF.at. Er kommt zu dem Schluss, dass in der Alltagsreligiosität der Menschen kaum Unterschiede bestehen, erst auf Gelehrtenebene zeigten sich die Differenzen.

Die Welt kennenlernen

Verständnis für andere Religionen, Traditionen und Meinungen zu entwickeln, bringt eine Stabilisierung der eigenen Standpunkte, ist der Mönch überzeugt. Zudem habe jedes System Stärken und Schwächen, schreibt er in seinem Buch „Ocean of Diversity“, in dem er seine Beschäftigung mit verschiedenen nichtbuddhistischen Religionen ausführt.

Weil ihm der Buddhismus nicht genug war, verließ er Tibet, ging zunächst nach Indien und bereist seither die Welt. Für ihn war das die richtige Entscheidung, sagt der Rinpoche, „jetzt kenne ich die Welt“. Er verfasste innerhalb von zwölf Jahren zehn Bücher über Kalachakra, die verschiedenen Religionen und das mythische Königreich Shambala.

Besonders gehütete Praxis

Kalachakra ist eine sehr fortgeschrittene Praxis, die Überlieferungen zufolge von Buddha Shakyamuni im hohen Alter gelehrt und nur an ausgewählte Personen weitergegeben wurde. Besonders gehütet und geheim gehalten wurde dieses Praxissystem Jahrtausendelang von der Jonang-Linie - einer Untergruppe einer der vier Hauptschulen des tibetischen Buddhismus. Als 54. Linienhalter ist der Khentrul Rinpoche, der erste Vertreter der Jonang-Linie, der Kalachakra in die Welt tragen möchte.

Eine Tibeterin beim Beten inmitten von Gebetsfahnen

APA/AFP/Dibyangshu Sarkar

Der Khentrul Rinpoche sieht in Kalachakra eine Möglichkeit, die Welt zu verändern

Über den Buddhismus hinaus

„Für mich geht Kalachakra weit über den Buddhismus hinaus und komplettiert aus meiner Sicht den spirituellen Weg für diese Welt“, sagte der Rinpoche im Gespräch mit religion.ORF.at. Andere spirituelle Wege seien nicht falsch oder schlecht, so der Rinpoche, aber unvollständig und begrenzt.

Im „Königstantra“ Kalachakra wird alles, was im Universum existiert, als miteinander verbunden betrachtet. Übersetzt wird es mit „Rad der Zeit“. Dabei werden mehrere Kreisläufe unterschieden, die wiederum alle zusammenhängen. Kalachakra vereine die Weisheit der gesamten Welt, erklärte der Kalachakra-Meister.

Echter Friede und Harmonie

Das äußere Kalachakra bildet dabei das Universum, das von Lebewesen und Dingen bevölkert ist, gefolgt von persönlichen körperlichen und geistigen Strukturen und Energien. Ziel ist die Erleuchtung. Frieden in und um sich zu generieren ist auch die zentrale Botschaft des Khentrul Rinpoche: echter Friede und Harmonie. Erreicht werden könne das durch die Praxis des Kalachakra.

„Die ganze Welt redet von Frieden und Harmonie, besonders Politiker, aber das ist leeres Gerede, weil sie keinen wirklichen Zugang haben. Die Welt würde anders aussehen, wenn es eine Kalachakra-Bewegung gäbe“, so der Rinpoche. „Mit Kalachakra bist du international, du verstehst jeden Standpunkt.“

Shambala als universale Weisheit

Eng verbunden mit Kalachakra ist das mythische Königreich Shambala, das diese Lehren beherbergen soll. Der Rinpoche spricht in seinem neuesten Buch „Demystifying Shambhala“ von Shambala als dem Reich der Glückseligkeit jenseits aller Vorstellungen und Vergleiche, die von der Menschheit durch das Meditieren der Kalachakra-Lehren erfahren werden könne. Shambala gilt auch als universelle Weisheit, die weder an Orte und Kulturen noch an Religionen gebunden ist. Das Wissen darüber existierte aber bereits vor Buddha.

Problematisch wurden im Zweiten Weltkrieg die Versuche der Nazis, Shambala für das Dritte Reich zu vereinnahmen. Um 1900 hatten westliche Esoteriker Shambala bereits unterschiedlich gedeutet.

Es ist, wie es ist

Politik interessiert den Buddhisten nicht. Er nimmt die Dinge so wie sie sind und mit buddhistischer Gelassenheit zur Kenntnis, auch den Klimawandel, die Bedrohung durch Atomwaffen, und die Situation im von China kontrollierten Tibet. Es laufe vieles nicht so, wie es wünschenswert wäre und er sei besorgt, aber nicht panisch, sagte der Khentrul Rinpoche.

Solange aber das Grundproblem nicht angegangen würde, gebe es keine Verbesserung auf der Welt. Als Grundproblem identifiziert er den Fokus auf den Nutzen für den Einzelnen. Jeder bekomme beigebracht, dass man die beste Ausbildung und den besten Job brauche, um den größten Nutzen zu erzielen. Hier müsse Bildung ansetzen.

Leben im Augenblick

Dann könnte die Welt, wie im Kalachakra, als Ganzes erfasst werden, dessen Teile miteinander zusammenhängen und voneinander abhängig sind. Das eigene Handeln würde in einem solchen System immer die Wirkung auf andere Personen und Bereiche, überprüfen. Der Gebrauch von Atomwaffen zum Beispiel wäre unvorstellbar.

Das Leben im Augenblick ist dem Rinpoche wichtiger als Gedanken über Dinge, die so sind, wie sie sind. Daher ist es ihm eigentlich auch gleichgültig, wo er sich befindet, ob in Indien, Tibet, Wien oder Budapest. Er wundere sich, warum er immer wieder danach gefragt werde, ob es ihm hier oder dort gefalle.

Nina Goldmann, religion.ORF.at

Links: