Ungarische Juden gespannt vor Wahl

Am Sonntag wird in Ungarn ein neues Parlament gewählt. Andras Heisler, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Ungarn, über sein „korrektes“ Verhältnis zu Premier Viktor Orban und den Grund, warum er keine Wahlempfehlung abgibt.

Ein Sieg von Orbans rechtspopulistischer Partei FIDESZ gilt als sicher. An zweiter Stelle liegt Umfragen zufolge die rechtsextreme Jobbik-Partei. Die jüdische Gemeinde in Ungarn ist mit 120.000 Mitgliedern eine der größten Europas.

ORF.at: Herr Heisler, an erster Stelle FIDESZ, dahinter Jobbik: Wäre Ihnen dieses Ergebnis recht?

Andras Heisler: Wissen Sie, der Verband der jüdischen Gemeinden in Ungarn (Mazsihisz) hat von Anfang an erklärt, dass er sich nicht in die Parteipolitik oder in den Wahlkampf einmischen wird. Weder beziehen wir Stellung für eine Seite noch geben wir unseren jüdischen Mitbürgern eine politische Richtung vor. Wir werden uns das Ergebnis am Ende des Tages ansehen und dann darüber Gespräche führen.

ORF.at: Falls die Jobbik-Partei, die in der Vergangenheit ja nicht selten mit antisemitischen Codes und Chiffren für Aufregung gesorgt hat, mehr Wählerstimmen erhält, beunruhigt Sie das nicht? Sie selbst lehnten eine Kooperation mit Jobbik bisher immer ab.

Heisler: Es stimmt. Die Jobbik-Partei hat in Ungarn oft antiziganistische und antijüdische Akkorde gespielt, und das hat gereicht, um im Parlament Sitze zu gewinnen. Aber die Mehrheit der ungarischen Gesellschaft lehnt die Extremisten ab. Wenn wir trotzdem Phänomene registrieren, die für die jüdische Gemeinde widerlich und unangenehm sind, erheben wir natürlich unsere Stimme. Dafür sind wir da, das ist unser Job. Abgesehen davon wünschen wir uns eine organisierte, konstruktive und transparente Beziehung mit der aktuellen und künftigen Regierung.

Andras Heisler, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Ungarn

APA/AFP/Attila Kisbenedek

Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Ungarn, Andras Heisler

ORF.at: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zum amtierenden Regierungschef Viktor Orban beschreiben? Immerhin ist er seit acht Jahren Premierminister und sie seit fünf Jahren Mazsihisz-Vorsitzender. Es gab sicher reichlich Gesprächsbedarf.

Heisler: Unser Verhältnis kann man als korrekt bezeichnen. Die Fragen, die wir uns aber immer wieder stellen müssen: Wie ist die Beziehung zwischen der aktuellen Regierung und der jüdischen Gemeinde? Wie können wir ein Gleichgewicht zwischen moderater Kooperation und prinzipienloser Zusammenarbeit herstellen? Diesen Herausforderungen müssen sich alle Kirchenvertreter in Ungarn stellen.

ORF.at: Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen der jüdischen Gemeinde und der Regierung bisher?

Es gibt positive und negative Beispiele. Fakt ist aber, dass es Probleme gibt, die ich in persönlichen Gesprächen mit Orban thematisiert habe. Das Subventionssystem für Kirchen, das auch unseren Verband betrifft und unmittelbar nach dem Regimewechsel 1990 entstanden ist, ist nicht zeitgemäß. Die Regierung kann die Finanzierung jederzeit kürzen, was unsere Autonomie natürlich massiv beeinflusst. Und was das ungarische jüdische Volk anbelangt, so gibt es 73 Jahre nach dem Holocaust noch immer ungelöste Restitutionsprobleme.

ORF.at: Zuletzt war die Stimmung zwischen Ihnen und Orban angespannt. Sie kritisierten ihn, weil er den früheren ungarischen Reichsverweser und Hitler-Verbündeten Miklos Horthy (1868 bis 1957) einen „außergewöhnlichen Staatsmann“ nannte.

Heisler: Orban und seinen Mitstreitern geht es bei solchen Mythenbildungen darum, ihre Rechtsaußenwähler zu bedienen. Das mag damals dem Vorwahlkampf geschuldet gewesen sein, aber wir tolerieren nicht, dass Geschichte verfälscht und Horthys Verantwortung am Holocaust verharmlost wird. Es ist unsere Pflicht, der 600.000 ermordeten ungarischen Juden zu gedenken. In dieser Frage gibt es keinen Kompromiss. Das habe ich dem Premierminister so gesagt, und ich glaube, er hat es auch akzeptiert.

ORF.at: Wenig später stand Orban abermals in Kritik. Dieses Mal wegen einer Kampagne gegen den in Ungarn geborenen jüdischen US-Milliardär George Soros. Sie sprachen selbst von „antisemitischen Regungen“.

Heisler: Das war inakzeptabel und löste in der jüdischen Gemeinde Angst aus. Viele haben sich gefürchtet, der Ton und Stil dieser Kampagne war für uns sehr unangenehm. Soros ist ein bekannter jüdischer Mann, der aufgrund seiner Herkunft öfters zur Zielscheibe von Rechtsextremen geworden ist. Diese jahrzehntelange Stigmatisierung brannte sich in das kollektive Gedächtnis Ungarns ein, auch wenn für die Mehrheit der Bevölkerung die Persönlichkeit von Soros, seine hypothetische oder reale Tätigkeit oder seine jüdische Herkunft irrelevant sind.

ORF.at: Orban wies die Antisemitismusvorwürfe umgehend zurück. Er sagte, mit Judenfeindlichkeit habe die Kampagne nichts zu tun. Glauben Sie ihm das?

Heisler: Es stimmt, dass die ungarische Regierung die Herkunft von Soros auf den Plakaten nicht betont hat. Aber solche Kampagnen, die Personen jüdischer Herkunft als Feindbilder stilisieren, haben durchaus das Potenzial, unkontrollierte Emotionen, einschließlich Antisemitismus, zu entfachen. Sie müssen wissen, dass laut Untersuchungen knapp 30 Prozent der ungarischen Bevölkerung antisemitische Gefühle haben. Physische Gewalt ist nicht die Bedrohung, sondern die Tatsache, dass die Politik diese Stimmung für ihre Zwecke missbraucht. Deshalb habe ich Orban auch darum gebeten, diesen Alptraum zu stoppen. Was er schließlich getan hat, mit einiger Verzögerung.

ORF.at: Kommen wir noch kurz auf die österreichische Politik zu sprechen. Sie sind auch Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC). Wie beurteilen Sie die Regierungsbeteiligung der FPÖ?

Heisler: Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP, Anm.) ist ein fähiger Politiker, der seine positive Einstellung gegenüber dem jüdischen Volk und Israel immer wieder zum Ausdruck gebracht hat. Aber aus unserer Sicht ist es zutiefst beunruhigend, dass er sich für eine Koalition mit der weit rechts stehenden Partei entschieden hat. Wir verfolgen die Situation in Österreich und wie die jüdische Gemeinde auf die FPÖ reagiert.

ORF.at: Das hat sie schon. Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs, wird im heurigen Gedenkjahr Veranstaltungen boykottieren, an denen auch FPÖ-Minister und -Ministerinnen teilnehmen. Was halten Sie davon?

Heisler: Der WJC hat im vergangenen Jahr eine ähnliche Resolution verabschiedet. Treffen oder Verhandlungen mit weit rechts stehenden Parteien sind abzulehnen. Deshalb verstehe ich die Maßnahme von Oskar Deutsch. Wir stehen mit der österreichischen jüdischen Gemeinde Schulter an Schulter.

Das Gespräch führte Jürgen Klatzer, ORF.at

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