Jüdisches Chorfestival in Wien

Vier Tage lang war Wien Zentrum der europäischen jüdischen Chormusik. Rund 400 Sänger aus 18 Städten tauschten jüdisches Liedgut und Melodien und probten für ein gemeinsames Konzert heute Sonntag.

Rund vierzig Augenpaare konzentrieren sich auf die Dirigentin in der Mitte des Raumes. Teils mit kleinen Gesten, dann wieder mit Einsatz des ganzen Körpers leitet Polina Shepered die rund um sie stehenden Sängerinnen und Sänger durch ein „Lied ohne Worte“, ein sogenanntes Nigun. Die refrainartige Melodie schwillt an, um sich nach einem heftigen Crescendo mit einem Piano abzuwechseln. Bei Workshop Nummer vier des „Europäischen Jüdischen Chorfestivals“ herrscht volle Konzentration. Die international bekannte Klezmermusikerin Polina Shepered hat es in kürzester Zeit geschafft, ihre Begeisterung für Nigunim auf die Chormitglieder überspringen zu lassen. „Jetzt improvisieren wir, traut euch, gehen aus euch heraus“, fordert sie alle im Raum auf.

Europäisches jüdisches Chorfestival in Wien

ORF / Marcus Marschalek

Polina Shepered studiert mit den Chorsängern ein Nigun ein und ermutigt zur Improvisation.

Aus 18 europäischen Städten sind die Sängerinnen und Sänger angereist, von St. Petersburg bis Utrecht. Vier Tage wollen die rund 400 Chormitglieder aus insgesamt elf verschiedenen jüdischen Chören in Wien miteinander verbringen. Einmal noch wächst das bunte Durcheinander der Stimmen im Raum an, vereinigt sich zu einem harmonischen Ganzen und bildet einen fulminanten Schluss für den Nigunim-Workshop.

Lieder voller Kraft

Für manche hier sind diese Lieder wie Gebete, eine Überzeugung, mit der sie in der Tradition vieler berühmter und bekannter Rabbiner stehen. Für andere ist es eine ungeheure Kraft, die beim gemeinsamen Singen freigesetzt wird und die einen verändert, egal ob man an Gott glaubt oder nicht, erzählt eine junge Sängerin aus Belgrad.

Europäisches jüdisches Chorfestival in Wien

ORF / Marcus Marschalek

In einem Workshop mit Monika Weiner wird Klezmer Tanz unterrichtet.

Als Probeort hat man das Theater Odeon in der Wiener Taborstraße ausgewählt. In den zahlreichen Nebenräumen, Bühnenwerkstätten und Kostümgarderoben trifft man auf Sängerinnen und Sänger. Im großen Saal leitet Roman Grinberg den Workshop „Jiddisches Lied“.

Galakonzert „Shir LaSchalom"
Zum Abschluss des jüdischen Chorfestivals treten alle Chöre beim Galakonzert "Shir LaSchalom - A Song for Peace“ auf.

Sonntag 12. Mai, 18.00 Uhr
Austria Center Vienna,
Bruno-Kreisky-Platz 1, 1220 Wien.

Er hüpft vom Klavier zu den Sängern und wieder zurück, gestikuliert, klatscht und zeigt mit einer breiten Palette an Mimik wie ein jiddisches Lied richtig zu interpretieren sei. „Have fun, enjoy“, fordert er die Sänger immer wieder auf.

Die Pflege des jiddische Liedes hat sich Roman Grinberg zur Lebensaufgabe gemacht. Weltweit spürt er diesem Liedgut nach, spricht mit Zeitzeugen und bemüht sich alte Lieder vor dem Vergessen zu retten und neue zu komponieren. Grinberg ist der künstlerische Leiter des Wiener Jüdischen Chores und somit Gastgeber und Organisator des Festivals. Als man mit den Vorbereitungen zum Event begonnen hatte, habe man nicht mit diesem großen Teilnehmeransturm gerechnet, erzählt der Vollblutmusiker im Gespräch mit religion.ORF.at.

Jüdische Spurensuche in Wien

Freitagnachmittag geht es dann auf jüdische Spurensuche in Wien. In kleinen Gruppen besuchen die Festivalteilnehmer das jüdisches Theater, die Tempelgasse, Schulen und Synagogen. Das von den Nationalsozialisten nahezu ausgelöschte jüdische Leben in Wien findet nach sieben Jahrzehnten langsam wieder zur Normalität zurück, so der Eindruck einiger Chormitglieder nach ihrem Rundgang durch die Leopoldstadt und den ersten Wiener Bezirk.

Europäisches jüdisches Chorfestival in Wien

ORF / Marcus Marschalek

Stadtführung durch das jüdische Wien: Mitglieder des "Shalom Chors aus Berlin und vom Chor „Masel tov“ aus dem Wuppertal vor dem jüdischen Theater am Netroyplatz.

Beim Gehen durch die Gassen kommen viele miteinander ins Gespräch, tauschen sich aus. Nicht alle Mitglieder von jüdischen Chören gehören dem Judentum an und manche Juden sehen sich eher der jüdischen Kultur verbunden als einer Religion zugehörig. Liberale Juden, konservative und orthodoxe Juden, aber auch Gläubige anderer Religionen und Nichtglaubende treten hier über die Musik in einen Dialog, der auch außerhalb der Proberäume und Konzertsäle weitergeführt wird, erzählt Jasna Pecarski aus Belgrad und viele andere Festivalteilnehmer bestätigen das.

So vielfältig wie die Lebens- und Religionszugänge der Chormitglieder sind, ist auch das musikalische Programm am Chorfestival. Liturgische Lieder und Gebete, jiddische Alltagslieder und Volkslieder werden hier gegenseitig vorgetragen und gemeinsam einstudiert. Großes gemeinsames Ziel am Ende des Chorfestivals ist das Galakonzert „Shir LaSchalom“ im Austria Center Vienna am Sonntagabend.

Europäisches jüdisches Chorfestival in Wien

ORF / Marcus Marschalek

Gemeinsam mit Bewohner des Altenheimes im Maimonideszentrum begehen die Festivalteilnehmer den Sabbatbeginn.

Sabbatlieder und Tanzfreude

Es braucht ein bisschen Zeit, bis die 400 Sängerinnen und Sänger die Sicherheitskontrolle im Maimonidescenter in der Leopoldstadt absolviert haben. Hier will man gemeinsam mit den Bewohnern des jüdischen Alten- und Pflegeheims am Freitagabend den Sabbat beginnen. Nach jüdischer Tradition werden von den Frauen die Kerzen „gezündet“. Es folgt kurz vor Sonnenuntergang der Segensspruch über den Becher Rotwein und das Brot, der sogenannte Kiddusch. Dann wird gegessen. Während des gemeinsamen Mahles werden Lieder angestimmt und schließlich tanzen alle im Saal.

Jüdisches Chorfestival in Wien

ORF / Marcus Marschalek

Beim gemeinsamen Sabbatmahl wird gesungen und getanzt. Fotografiert werden durfte aber nur bis Sonnenuntergang, danach verbieten es die Sabbatgesetze.

Das gemeinsames Singen von Frauen und Männern wird im Judentum durchaus kontrovers diskutiert. So ist es bis heute nahezu nur in liberalen und progressiven jüdischen Gemeinden möglich, dass Frauen und Männer beim Gebet in der Synagoge gemeinsam singen, wie etwa bei der Gemeinschaft Or Chadasch in Wien. Im konservativen und orthodoxen Judentum hingegen ist die Meinung weit verbreitet, dass die Stimmen der Frauen, die Männer von der Andacht abhalten könnten.

Das ist für die gemischten jüdischen Chöre, die durchaus auch liturgisches Liedgut für den Synagogengottesdienst pflegen, eine Herausforderung. Auftritte in den jüdischen Tempeln sind somit kaum möglich. Meist können die Lieder nur konzertant zur Aufführung kommen. Das sind Momente, die Verständnis und viel Toleranz für die Überzeugung und den Glauben der anderen erfordern, erzählt Dejan Curkovic vom jüdischen Chor „Varnitshkes“ aus der Ukraine. Sie selbst bezeichnet sich als nicht religiös, hofft aber, dass ihr „eines Tages die jüdische Musik den Weg zum Glauben öffnen wird“.

Europäisches jüdisches Chorfestival in Wien

ORF / Marcus Marschalek

Gemeinsame Probe aller Chöre für das Abschlusskonzert des Festivals am Sonntag.

Das gemeinsame Musizieren, etwa bei den „Jamsessions“, singen mit viel Improvisation und Spontanität, ist wie ein Brückenschlag zwischen den Kulturen, so steht es nicht nur auf der Website des Wiener Jüdischen Chores, sondern so bekommt man es von vielen Sängerinnen und Sängern am Festival bestätigt. Und man will einander wieder sehen, spätestens in einem Jahr, beim nächsten „Europäischen Jüdischen Chor Festival“.

Marcus Marschalek, religion.ORF.at

Die teilnehmenden Chöre:

Video-on-Demand:

„A Song for Peace“ - Jüdisches Chorfestival in Wien
(Orientierung 19. 05. 2013)