Mädchen gelten in Indien als minderwertig, überflüssig und teuer. Ist ein Baby weiblichen Geschlechts, lebt es in vielen - vor allem ländlichen - Gegenden in Gefahr, ermordet zu werden.

ORF/Christian Rathner

Von fehlenden Mädchen und verbotener Liebe

In Indien gibt es einen deutlichen Männerüberschuss: Kindstötungen haben zu einer prekären gesellschaftlichen Situation geführt. Der zweite Film erzählt von „Romeo und Julia“-Schicksale junger Paare in Nepal.

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ORF

Sendungshinweis

Dienstag, 17. September 2013
um 22.30 Uhr, ORF 2

Wiederholungen:

Mittwoch, 18. September 2013
um 20.15 Uhr, ORF III

Donnerstag, 19. September 2013
um 11.50 Uhr, ORF 2

In Indien fehlen Frauen und Mädchen. Und zwar nicht einige wenige, sondern – nach profunden Schätzungen – etwa 50 Millionen. Offizielle Zahlen der indischen Regierung weisen für 2011 ein statistisches Geschlechterverhältnis von 933 weiblichen pro 1000 männlichen Personen aus. In den Städten ist das Verhältnis schlechter als auf dem Land: 900 Mädchen und Frauen kommen dort auf 1000 Buben und Männer. Der Bundesstaat mit dem niedrigsten weiblichen Anteil ist Haryana mit 861 Frauen, der Distrikt Daman an der Westküste bildet mit sage und schreibe 591 Frauen auf 1000 Männer das Schlusslicht der Tabelle.

Was sich in statistischen Zahlen nüchtern liest, hat in Wahrheit traurige Ursachen und dramatische Folgen. Es ist keine Laune der Natur, die in Indien – oder auch in China und anderen südostasiatischen Ländern – die Frauen dezimiert: Die Mädchen fehlen, weil man sie nicht leben lässt. Durch die Modernisierung ist der „Infantizid“, die Tötung von Babys, hinter der neuen Möglichkeit der Abtreibung zurückgetreten. Abtreibungsgrund: das falsche Geschlecht. Die Ultraschallmaschine macht es möglich. Die „sex ratios“ sind seit ihrer Einführung weiter gesunken. Laut indischem Gesetz ist es den Ärzten verboten, den Eltern mitzuteilen, ob sie ein Mädchen oder einen Buben bekommen werden. Aber, wie der Gynäkologe Puneet Bedi anmerkt: „Wie alles Illegale ist auch das zu bekommen – für einen Preis.“ Vor allem Mädchen, die Zweitgeborene wären, haben schlechte Chancen.

Mädchen gelten in Indien als minderwertig, überflüssig und teuer. Ist ein Baby weiblichen Geschlechts, lebt es in vielen - vor allem ländlichen - Gegenden in Gefahr, ermordet zu werden.

ORF/Christian Rathner

Die Folgen sind fast täglich den Medien zu entnehmen. Nach übereinstimmender Aussage vieler Expertinnen und Experten bringt der Umstand, dass mittlerweile in vielen Gegenden ein eklatanter Männerüberschuss herrscht, keineswegs besondere Freundlichkeit gegenüber Frauen hervor. Im Gegenteil: Er nährt die Gewalt gegen Frauen in ihren vielen Erscheinungsweisen.

Ein ambitioniertes Filmprojekt der Bollywood-Regisseurin Madhureeta Anand bringt dieses Thema nun auf die Leinwand. Sie zeigt in einem Spielfilm die Geschichte einer Frau namens Kajarya, die als Witwe ihre Existenz sichern will, indem sie vorgibt, in besonderer Weise mit der Todesgöttin Kali in Verbindung zu stehen. Prompt wird sie dazu bestimmt, unerwünschte Mädchen zu töten. Meera, eine junge Journalistin aus Delhi, stößt auf diese Verbrechen und deckt den ungeheuren Druck einer Gesellschaft auf, die im Grunde keine Mädchen will.

„kreuz und quer“-Regisseur Christian Rathner war mit seinem Team bei Dreharbeiten dieses Spielfilms im Dorf dabei, hat mit der Regisseurin, mit Mitwirkenden, mit Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern gesprochen und in Delhi nach Hintergründen der erschütternden Fakten gefragt – von den Kindestötungen der Kajarya bis zu den Vergewaltigungen, die Indien derzeit erschüttern.

Mädchen gelten in Indien als minderwertig, überflüssig und teuer. Ist ein Baby weiblichen Geschlechts, lebt es in vielen - vor allem ländlichen - Gegenden in Gefahr, ermordet zu werden.

ORF/Christian Rathner

Ist ein Baby weiblichen Geschlechts, lebt es in vielen - vor allem ländlichen - Gegenden in Gefahr, ermordet zu werden. „Kajarya“ vor einem Standbild der Göttin Kali

Dabei kommt auch Kali in den Blick, die Göttin des Todes und der Zerstörung – aber eben auch des Wandels und der Erneuerung. Kali-Kraft wird von den Hindus beschworen, wenn sich Dinge ändern müssen. Und das müssen sie. Dazu trägt bei, dass seit der erschütternden Gruppenvergewaltigung im Dezember des Vorjahres, als in Delhi eine junge Frau in einem Autobus tödlich verletzt wurde, eine große Diskussion in Gang gekommen ist und die Gewalt gegen Frauen und Mädchen immer mehr als vordringliches Thema wahrgenommen wird. Aktivistinnen und Aktivisten setzen sich für Veränderungen ein, nennen die „Vergewaltigungs-Unkultur“ beim Namen und verlangen adäquate Reaktionen von Politik und Justiz.

Großes Echo hat die Geschichte von Pooja Chopra ausgelöst. Sie ist Bollywood-Schauspielerin und wurde 2009 schlagartig bekannt, als sie zur Miss Indien gekürt wurde. Irgendwann erzählte die Mutter der schönen Frau, Neera Chopra, einer Reporterin ihre Geschichte. Pooja hat eine ältere Schwester. Der Vater der beiden wollte keinesfalls zwei Töchter. Er verlangte, Pooja entweder in ein Waisenhaus zu geben oder sie zu töten. Neera nahm ihre beiden Töchter und verließ das Haus. „Meine Mutter“, sagt Pooja Chopra im kreuz-und-quer-Interview, „hat mir das Leben nicht nur geschenkt – sondern auch gerettet.“

Regie: Christian Rathner
Redaktion: Helmut Tatzreiter

Verbotene Liebe

Vier junge Paare widersetzen sich den gesellschaftlichen Zwängen und versuchen, eine Liebesheirat gegen den Willen ihrer Eltern einzugehen: Was wie eine moderne Variante des alten Romeo-und-Julia-Stoffes wirkt, ist heute noch beinharte Realität in Nepal. Die „kreuz und quer“-Dokumentation des Filmemachers Dilman Dilo zeigt diese dramatischen Geschichten „verbotener Liebe“.

Nepal ist ein Land, in dem bis Abschaffung der Hindu-Monarchie im Jahr 2006, der Hinduismus Staatsreligion war und in dem das Kastensystem nach wie vor das gesellschaftliche Leben dominiert: Hier bestimmen die Eltern, wen ihre Söhne und Töchter zu heiraten haben. Sehr wichtig ist dabei auch, dass die Ehepartner aus einer gleichrangigen Kaste stammen. Vier junge Paare haben sich dieser Tradition widersetzt und dabei sehr viel riskiert.

In den oft sehr traditionsverbundenen Ländern Asiens werden Eheschließungen meist von den Eltern arrangiert. Parbati hat ihre Familie verlassen, um Manoj zu heiraten.

ORF/Espresso TV/Dilman

In der modernen westlichen Welt werden Ehen weitgehend aus Liebe geschlossen. In den oft sehr traditionsverbundenen Ländern Asiens hingegen werden Eheschließungen meist von den Eltern arrangiert. Parbati hat ihre Familie verlassen, um Manoj zu heiraten

Manoj, ein junger Mann aus der Kaste der Unberührbaren, ein Dalit, verliebte sich im Jahr 2003 in Parbati, eine junge Frau aus einer hohen Kaste. Da sie offiziell keine Beziehung eingehen durften, flüchtete das junge Paar, wurde jedoch rasch von der Familie Parbatis aufgestöbert. Ihre Familienmitglieder gingen äußerst brutal gegen die Dalit-Bevölkerung des Dorfes vor, in dem sich das junge Paar versteckte. Die Ausschreitungen nahmen die Ausmaße einer ethnischen Säuberung an.

Auch Syam und Saraswoti stammen aus verschiedenen Kasten und mussten ihre Beziehung im Geheimen führen. Als ihre Beziehung öffentlich wurde, brannten sie heimlich durch. Doch auch sie wurden von den Verwandten der jungen Frau entdeckt: Sie wurde mit Polizeigewalt wieder zu ihren Eltern zurückgebracht und dort wie eine Gefangene gehalten. Später gelang es ihr wieder, heimlich ihr Elternhaus zu verlassen und zu ihrem Geliebten zurückzukehren. Weitere Übergriffe durch die Eltern blieben aus, aber Saraswoti ist durch ihre Ehe mit einem Kastenlosen von ihrer Familie verstoßen worden.

In den oft sehr traditionsverbundenen Ländern Asiens werden Eheschließungen meist von den Eltern arrangiert. Parbati hat ihre Familie verlassen, um Manoj zu heiraten.

ORF/Espresso TV/Dilman

Weil Saraswoti einen Dalit, einen Unberührbaren, geheiratet hat, kam es zu Ausschreitungen. Ihre Familie, die einer hochstehenden Kaste angehört, ging äußerst brutal gegen die Unberührbaren vor

Ranjana, ein Mädchen aus einer sehr hohen Kaste, verliebt sich in den kastenlosen Kishor. Als ihre Eltern von der Beziehung erfuhren, wollten sie für Ranjana eine Ehe mit einem Inder aus einer hohen Kaste arrangieren. Doch Ranjana ergriff rechtzeitig die Flucht. Als ihre Eltern vor Gericht zogen, um die Auflösung der Ehe zu beantragen, rief das junge Paar die Kommission zur Wahrung der Rechte der Dalits zu Hilfe. Dank politischer Interventionen konnten sie ihre Ehe weiterführen.

Für Rajib und Sabina gab es kein Happy End. Das junge Paar, das ebenfalls verschiedenen Kasten entstammte, flüchtete in den Urwald. Wenige Tage nach ihrer Flucht wurden sie gefunden: erhängt an einem Baum. Ob es Mord oder Selbstmord war, ist nie geklärt worden.

Regie: Dilman Dilo
Deutsche Bearbeitung: Rosemarie Pagani-Trautner