Junge indische Frau

ORF/TVF

Das „falsche“ Geschlecht in Indien

Indien-Schwerpunkt in „kreuz und quer“: Die Dokumentation „Der Sex, der Tod und die Götter“ zeigt, wie die „Devadasis“, „Dienerinnen Gottes“, über die Jahrhunderte von angesehen Tänzerinnen zu Zwangsprostituierten wurden. Danach: „Sag mir, wo die Mädchen sind.“

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ORF

Sendungshinweis

Dienstag, 1. April 2014
um 22.35 Uhr, ORF 2

Wiederholung:

Mittwoch, 2. April 2014
um 20.15 Uhr, ORF III

Donnerstag, 3. April 2014
um 11.55 Uhr, ORF 2
(nur „Der Sex, der Tod und die Götter“)

Prostitution mit göttlicher Legitimation sowie die verheerenden gesellschaftlichen Auswirkungen von Kindstötungen und Abtreibungen wegen des „falschen“ Geschlechts auf dem Subkontinent thematisiert „kreuz und quer“ – präsentiert von Doris Appel – am 1. April ab 22.35 Uhr in ORF 2:

„Devadasis“ – „Dienerinnen Gottes“ – werden indische Frauen genannt, die bereits in sehr jungen Jahren der Hindu-Göttin Yellamma geweiht und symbolisch mit ihr verheiratet werden. Eine Ehe mit einem Mann aus Fleisch und Blut dürfen diese Frauen nicht mehr eingehen. Früher waren Devadasis hochangesehene Tempeltänzerinnen, die bei Hindu-Festen ihre Künste darboten.

Heute ist ihre religiöse Bedeutung nur mehr nebensächlich, das System der Devadasis ist zu einer üblen Form von Zwangsprostitution verkommen. Eine Praxis, die zwar in Indien mittlerweile gesetzlich verboten, aber dennoch im Verborgenen noch immer anzutreffen ist. Die britische Dokumentarfilmerin Beeban Kidron hat für ihre Dokumentation „Der Sex, der Tod und die Götter“ Devadasis getroffen.

Um 23.25 Uhr folgt „Sag mir, wo die Mädchen sind“: Auf dem Subkontinent gibt es einen deutlichen Männerüberschuss – es fehlen Frauen und Mädchen: weil man sie nicht leben lässt. Christian Rathner hat nach Hintergründen der erschütternden Fakten – von den Kindstötungen bis zu den Vergewaltigungen, die das Land derzeit erschüttern – gesucht.

„Der Sex, der Tod und die Götter“

Meist entstammen die Devadasis der untersten sozialen Schicht Indiens, der Gruppe der Dalits, die früher auch als Unberührbare geächtet wurden. Dass sie von ihren Müttern und Großmüttern der Göttin Yellamma geweiht werden, hat mit der schlechten wirtschaftlichen Situation der Dalit-Familien zu tun. Denn durch die Zwangsprostitution tragen die Devadasis wesentlich dazu bei, die Großfamilie zu erhalten. Doch nicht alle Devadasis sind unglücklich mit ihrem Schicksal. Mache sehen es sogar als Vorteil, sich nicht einem Ehemann unterordnen zu müssen, der in der häufig frauenfeindlichen indischen Gesellschaft die Position des dominanten Beherrschers – oft sogar Unterdrückers – einnimmt.

Die Dokumentation geht auch ausführlich auf die historischen Wurzeln des Devadasi-Systems ein. Denn in der vorkolonialistischen Zeit waren Devadasis hochangesehene Frauen, die im Schutz des Tempels lebten und sich dem Tanz und den schönen Künsten widmen konnten. Da sie zur Ehelosigkeit verpflichtet waren, dienten sie oft den Tempelpriestern, hochrangigen Beamten oder den lokalen Fürsten als Nobel-Konkubinen, verwöhnt und reich mit Schmuck und kostbaren Juwelen beschenkt. Die Tempeltänzerinnen durften über eigene Besitztümer verfügen und konnten ihr Hab und Gut an ihre weiblichen Nachkommen weitervererben.

Als Indien dem Britischen Empire als Kronkolonie einverleibt wurde, gelangte das System der Devadasis in Verruf. Nach und nach verloren die Frauen ihren hohen gesellschaftlichen Stellenwert, später wurde dieses System per Gesetz verboten. Übrig geblieben ist eine Form von Prostitution im Namen der Göttin Yellamma – aus wirtschaftlicher Not.

Ein Film von Beeban Kidron
Deutsche Bearbeitung: Rosemarie Pagani-Trautner

Indisches Mädchen

ORF/Christian Rathner

„Sag mir, wo die Mädchen sind“

In Indien fehlen Frauen und Mädchen. Und zwar nicht einige wenige, sondern – nach profunden Schätzungen – etwa 50 Millionen. Offizielle Zahlen der indischen Regierung weisen für 2011 ein statistisches Geschlechterverhältnis von 933 weiblichen pro 1.000 männlichen Personen aus. In den Städten ist das Verhältnis schlechter als auf dem Land: 900 Mädchen und Frauen kommen dort auf 1.000 Buben und Männer. Der Bundesstaat mit dem niedrigsten weiblichen Anteil ist Haryana mit 861 Frauen, der Distrikt Daman an der Westküste bildet mit sage und schreibe 591 Frauen auf 1.000 Männer das Schlusslicht der Tabelle.

Was sich in statistischen Zahlen nüchtern liest, hat in Wahrheit traurige Ursachen und dramatische Folgen. Es ist keine Laune der Natur, die in Indien – oder auch in China und anderen südostasiatischen Ländern – die Frauen dezimiert: Die Mädchen fehlen, weil man sie nicht leben lässt. Durch die Modernisierung ist der „Infantizid“, die Tötung von Babys, hinter der neuen Möglichkeit der Abtreibung zurückgetreten. Abtreibungsgrund: das falsche Geschlecht. Die Ultraschallmaschine macht es möglich. Laut indischem Gesetz ist es den Ärzten verboten, den Eltern mitzuteilen, ob sie ein Mädchen oder einen Buben bekommen werden. Aber, wie der Gynäkologe Puneet Bedi anmerkt: „Wie alles Illegale ist auch das zu bekommen – für einen Preis.“ Vor allem Mädchen, die Zweitgeborene wären, haben schlechte Chancen. Die Folgen sind fast täglich den Medien zu entnehmen. Nach übereinstimmender Aussage vieler Expertinnen und Experten bringt der Umstand, dass mittlerweile in vielen Gegenden ein eklatanter Männerüberschuss herrscht, keineswegs besondere Wertschätzung gegenüber Frauen hervor. Im Gegenteil: Er nährt die Gewalt gegen Frauen in ihren vielen Erscheinungsweisen.

Ein ambitioniertes Filmprojekt der Bollywood-Regisseurin Madhureeta Anand hat dieses Thema auf die Leinwand gebracht. Sie zeigt in einem Spielfilm die Geschichte einer Frau namens Kajarya, die als Witwe ihre Existenz sichern will, indem sie vorgibt, in besonderer Weise mit der Todesgöttin Kali in Verbindung zu stehen. Prompt wird sie dazu bestimmt, unerwünschte Mädchen zu töten. Meera, eine junge Journalistin aus Delhi, stößt auf diese Verbrechen und deckt den ungeheuren Druck einer Gesellschaft auf, die im Grunde keine Mädchen will.

„kreuz und quer“-Regisseur Christian Rathner war mit seinem Team bei Dreharbeiten dieses Spielfilms dabei, hat mit der Regisseurin, mit Mitwirkenden, mit Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern gesprochen und in Delhi nach Hintergründen der erschütternden Fakten gefragt. Dabei kommt auch Kali in den Blick, die Göttin des Todes und der Zerstörung – aber eben auch des Wandels und der Erneuerung. Kali-Kraft wird von den Hindus beschworen, wenn sich Dinge ändern müssen. Und das müssen sie. Dazu trägt bei, dass seit der erschütternden Gruppenvergewaltigung im Dezember 2012, als in Delhi eine junge Frau in einem Autobus tödlich verletzt wurde, eine große Diskussion in Gang gekommen ist und die Gewalt gegen Frauen und Mädchen immer mehr als vordringliches Thema wahrgenommen wird. Aktivistinnen und Aktivisten setzen sich für Veränderungen ein, nennen die „Vergewaltigungs-Unkultur“ beim Namen und verlangen adäquate Reaktionen von Politik und Justiz.

Großes Echo hat die Geschichte von Pooja Chopra ausgelöst. Sie ist Bollywood-Schauspielerin und wurde 2009 schlagartig bekannt, als sie zur Miss Indien gekürt wurde. Irgendwann erzählte ihre Mutter, Neera Chopra, einer Reporterin ihre Geschichte. Pooja hat eine ältere Schwester. Der Vater der beiden wollte keinesfalls zwei Töchter. Er verlangte, Pooja entweder in ein Waisenhaus zu geben oder sie zu töten. Neera nahm ihre beiden Töchter und verließ das Haus. „Meine Mutter“, so Pooja Chopra im „kreuz und quer“-Interview, „hat mir das Leben nicht nur geschenkt, sondern auch gerettet.“

Ein Film von Christian Rathner