Bibelessay zu Gen 12,1–4a

Ich beginne mit einem Umweg, aber das mag gestattet sein. Denn schließlich ist auch Abraham, wie ihn die Bibel vorstellt, ein Mann vielfacher Wege und Umwege. Und einer, der es gewagt hat, unbekanntes Terrain zu erkunden.

Ich möchte heute am Weltfrauentag einen Satz des US-amerikanischen Theologen David Tracy voranstellen. Er lautet sinngemäß: Es ist ein Merkmal jeder großen Tradition, dass sie aus sich selbst heraus reformierbar ist. Für mich, eine Frau in der katholischen Kirche, war dieser Satz immer ein Hoffnungszeichen. Meine Kirche kann sich verändern. Sie kann – vielleicht, endlich, viel zu spät – auch die Rolle, die Frauen in ihr spielen, neu finden, Frauen teilhaben lassen an den Entscheidungsstrukturen, die Weihe zu Diakoninnen, Priesterinnen, Bischöfinnen ermöglichen. Argumente, die in der eigenen theologischen Tradition liegen, gibt es schließlich genügend. Man könnte sich auf den Gedanken des ersten Schöpfungsberichts beziehen: dass Gott jeden Menschen, männlich wie weiblich nach seinem Bild gestaltet hat – ohne dass dies eine Hierarchie bedeuten würde. Oder Paulus nehmen, dessen Briefe davon wissen, dass Frauen Gemeinden geleitet und das Apostelamt ausgeübt haben.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin und Germanistin

Blinde Flecken der Tradition

Und doch macht gerade die Frauenfrage deutlich, dass es nicht so einfach ist mit der Reform von Traditionen aus sich selbst heraus. Denn andere berufen sich auf anderes. Sie pochen auf die lange Tradition der Kirche, die nur Männer als Priester kennt. Oder sie entwerfen ein Ideal von Frauen – hingebend, sorgend, empfangend. Und eben dieses ebenso hehre wie realitätsfremde Ideal schließt Frauen, so die Meinung, davon aus zu entscheiden, zu leiten, der Messe vorzustehen. Die Argumente sind längst ausgetauscht. Interpretation steht gegen Interpretation. Entscheidende Bewegungen in der Sache, gar Reformen - bisher bleiben sie aus.

Um kritikfähig zu sein, so erklärt die politische Philosophin Seyla Benhabib, reicht es denn auch nicht, im Eigenen zu bleiben. Es ist notwendig den Weg „nach außen“ zu gehen, das Eigene zu verlassen und fremde Perspektiven einzunehmen. Für die katholische Kirche wäre eine solche Perspektive etwa die Überzeugung, die sich wesentlich außerhalb von ihr durchgesetzt hat und für die der Weltfrauentag steht: Dass es keine gleiche Würde der Geschlechter ohne Teilhabe, ohne Mitbestimmung, ohne Gleichberechtigung gibt. Eine Außenperspektive bieten aber auch Stimmen, die in der Institution lange kein Gehör gefunden haben und die jetzt lauter und lauter werden – von Frauen, die in der Kirche zu Opfern sexuellen und spirituellen Missbrauchs geworden sind und nun beginnen, von ihren Erfahrungen zu berichten. Kirche muss, mit Benhabib gedacht, diese Perspektiven ernst nehmen, immer wieder „die Heimat … verlassen“. Denn erst die Fremde macht die blinden Flecken der eigenen Tradition, die Strukturen von Macht und versteckter Gewalt erkennbar.

Lebenskunst
Sonntag, 8.3.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Was Segen bedeutet

Der Weg in die Fremde führt – nun endlich – zum Bibeltext. Abraham, der hier noch Abram genannt wird, ist in der Bibel der Prototyp dessen, der aus der Heimat weggeht, der aufbricht und den Weg ins Unbekannte wagt. Er verlässt, so heißt es im Text, sein Land, sein Vaterhaus, seine Verwandtschaft und damit alles, was ihm bisher Orientierung, Sicherheit, Identität gegeben hat. Abraham wird, das erzählen die folgenden Geschichten, Erfahrungen in der Fremde machen, Gott in der Wüste begegnen, einen Sohn geschenkt bekommen. Er wird aber auch Gefahr und Unterdrückung erleben. Er wird schuldig werden an seinen Frauen – an Sara, deren Vergewaltigung er in Kauf nimmt, um sich selbst zu schützen. An Hagar, die er schwängert und dann vertreibt.

Das Wagnis der Fremde ist gemäß dem Text die Voraussetzung, dass sich Gottes Verheißung erfüllt: Abraham soll ein Segen sein. Durch ihn soll das Wohlwollen Gottes, das auf ihm liegt, allen Sippen der Erde, letztlich allen Menschen zu Teil werden. Alle sollen ein gutes Leben haben – denn das ist es, was „Segen“ wesentlich meint. Die Bedeutung dieser Verheißung erschließt sich erst in den Erzählungen von der Fremde. Erst dort, wo sich neu sehen lässt, was gut und heil, aber auch was nicht gut und nicht heil ist, wird deutlich, wie sich gutes Leben anfühlt und wo es fern ist. Das könnte meine Kirche heute von der Figur des Abraham lernen: Das Verlassen des Bekannten, der Platz vor den Stadttoren, der Blick „von außen“ zum Beispiel auf die Rolle von Frauen in der Kirche ist weder irrelevant noch Gefahr. Vielmehr wird erst von dort deutlich, was Segen bedeutet und was Kirche sein soll.