Muslimische Kindern im Islamunterricht. Pakistan.
REUTERS
REUTERS
Islam

Scharia

„Scharia“ (wörtlich: Weg zur Wasserquelle, übertragen: religiöses Gesetz) bezeichnet das islamische Rechtssystem, das die Beziehung zu Gott und den Menschen untereinander regelt.

Die Scharia basiert in erster Linie auf dem Koran, mit dem Gott sein Gesetz geoffenbart hat. Nachgereiht wird aber auch auf die „Sunna“ (Brauch, überlieferte Norm) zurückgegriffen. Das sind Überlieferungen über den islamischen Propheten Mohammed, die in den „Hadithen“ gesammelt sind. Diese beiden Quellen bilden die Richtschnur für die islamische Rechtswissenschaft und Rechtsgebung.

Die Scharia ist keine Gesetzessammlung im Sinne eines Kodex für gesetzliche Normen, sondern ein Rahmen für die Rechtsschöpfung. Zusammen mit weiteren Quellen wie dem Konsens, der unter Gelehrten gefunden wird, dem Analogieschluss und anderen Methoden entwickelt sich die Scharia als komplexes Rechtssystem mit Vorschriften und Traditionen sowie seiner Methodologie laufend weiter. Die Rechtswissenschaft, die sich mit der Scharia befasst, heißt auf Arabisch „Fiqh“.

Rechtsschulen mit unterschiedlichen Auffassungen

Im Lauf der islamischen Geschichte haben sich bei den Sunniten vier orthodoxe Rechtsschulen („Madhahib“, Singular: „Madhab“) herausgebildet. Sie unterscheiden sich vor allem darin, welchem „Idschtihad“ (Verfahren zur Rechtsfindung) sie anwenden und welche Rechtsquellen sie als zulässig ansehen.

  • Hanifiten
    Die hanifitische Rechtsschule ist nach dem Gelehrten Abu Hanifa (gest. 767 n. Chr.) benannt. Ihr gehören die meisten sunnitischen Muslime an: Sie ist in ehemalig osmanisch beherrschten Ländern, in Zentral- und Südasien und im Nahen Osten weit verbreitet. In Österreich wurden 1912 die Muslime „nach hanifitischem Ritus“ staatlich anerkannt. Diese Eingrenzung auf die hanafitische Rechtsschule wurde 1988 aufgehoben.
  • Malikiten
    Die malikitische Rechtsschule geht auf den Gelehrten Malik ibn Anas (gest. 795 n. Chr.) und ist vor allem im Maghreb und in der Subsahara verbreitet
  • Schafiiten
    Der Rechtsgelerhte asch-Schafi (gest. 820 n. Chr.) begründete die schafitische Rechtsschule, die vor allem in Südostasien, in Ostafrika, im Jemen, im Kurdengebiet, in Unterägypten und unter Palästinensern und Jordaniern dominiert.
  • Hanbaliten
    Die hanbalatische Rechtsschule wurde von Ahmad ibn Hanbal (gest. 855 n. Chr.) gegründet und ist als kleinster „Madhab“ heute vor allem in Saudiarabien verbreitet. Sie gilt als streng und konservativ in der Rechtsauslegung, weswegen ihr auch verschiedene islamistische Gruppen zuneigen.

Die vier sunnitischen Rechtsschulen erkennen sich gegenseitig offiziell an. Gläubige sollten sich einer Rechtsschule zuordnen, tun das in der Praxis aber oft nicht. Ein Wechsel ist leicht möglich.

Die wichtigste schiitische Rechtsschule heißt „Dschafariya“, die von der Kairoer „Al-Azhar“-Universität, einer Instanz für islamisches Recht, für rechtsgläubig erklärt wurde. Sie geht auf Abu Abd Allah Dschafar (gest. 765 n. Chr.) zurück. Ihr folgen vor allem die Anhänger der Zwölfer-Schia. Es gibt noch einige kleinere schiitische Rechtsschulen sowie schiitische Strömungen, die keiner formalisierten Rechtsschule folgen, sondern das Recht freier auslegen.

Die Fatwa als einflussreiches Rechtsgutachten

Die islamischen Rechtsquellen lassen den Rechtsgelehrten in vielen Rechtsfragen relativ viel Spielraum für die Interpretation. Im Einzelfall ist die Gesetzeslage häufig unklar. Für Klärung kann sich der Gläubige oder der Jurist an Rechtsgelehrte („Muftis“) wenden, die eine „Fatwa“ (Rechtsgutachten) aussprechen. Dieses Gutachten wird auf Basis der Rechtsquellen erstellt, das in der jeweiligen Rechtsschule Geltung hat. Für den Gläubigen ist die Fatwa im sunnitischen Mehrheitsislam jedoch nicht verbindlich, nur bei den Schiiten gilt eine Fatwa als unbedingt bindend. Heute kann man seine Fragen an die Muftis auch bei zahlreichen Online-Fatwa-Services stellen.

Durch die unterschiedlichen Zugänge der verschiedenen Rechtsschulen können sich Fatwas zu ein und derselben Frage im Extremfall auch widersprechen. In diesem Fall folgt der Gläubige jener Fatwa, die ihrer religiösen Richtung entspricht oder die sie am ehesten nachvollziehen können.

Gelegentlich machen Fatwas auch Schlagzeilen in der westlichen Welt. So sorgte die Fatwa des iranischen Ayatollah Khomeini, mit der er 1989 die Tötung des indisch-britischen Schriftstellers Salman Rushdie wegen angeblicher Gotteslästerung in dessen Buch „Die satanischen Verse“ forderte, international für Aufsehen. Fatwas können auch politische Ziele unterstützen wie etwa den Kampf gegen Terrorismus und die Genitalverstümmelung.

Scharia in der modernen Welt

Nur noch in einigen Ländern wie Saudiarabien und dem Sudan ist die Scharia heute noch die wichtigste Rechtsgrundlage. In vielen Ländern wurden einige Rechtsbereiche durch Rechtsmodelle nach westlichem Vorbild ersetzt oder ergänzt: Der zivilrechtliche Bereich wird häufig durch die Scharia geregelt, in anderen Bereiche orientiert man sich an anderen Rechtsgrundlagen. In einigen Ländern wie der Türkei und dem Sudan wurde die Scharia auf staatlicher Ebene abgeschafft. Für Muslime in Österreich gelten die staatlichen Gesetzesnormen. Dennoch ist auch für sie die Scharia von Bedeutung: für das religiöse Leben und ihre privaten Angelegenheiten.

Übersichtsartikel zum Islam

Siehe dazu auch im ORF-Religionslexikon: