Bibelessay zu Markus 4, 26 – 34

Die Bibel ist ein Buch mit vielen unterschiedlichen literarischen Texten und Textsorten. Dieser Abschnitt aus dem Markusevangelium erzählt zwei Gleichnisse. Sie gehören wohl zu den bekanntesten biblischen Gleichnissen. Auch Kinder kennen sie, sie werden gezeichnet, gesungen, getanzt.

Diese Gleichnisse entstammen einer Erzählsituation. Da will einer anderen etwas mitteilen, das sich aber kaum in Worte fassen lässt, deswegen der Umweg über Vergleiche. Gleichnisse sind Bilder, diese hier – Samen, Senfkorn – sind einer Agrargesellschaft vertraut, man weiß, was es bedeutet, mit Geduld auf das Heranwachsen von Getreide oder einer Senfpflanze zu warten.

Brigitte Schwens-Harrant
ist katholische Theologin, Germanistin und Feuilleton-Chefin der Wochenzeitung „Die Furche“

Auf den zweiten Blick ein Rätsel

Auf den ersten Blick sind diese Gleichnisse sogar heute noch leicht zu verstehen, selbst wenn man ein Senfkorn vielleicht nur aus dem Gurkenglas kennt: Da ist etwas zuerst klein, ganz, ganz klein, man siehts auch nicht, weil eingegraben, dann ist es groß, sehr, sehr groß. Hier wird ein Kontrast deutlich gemacht.

Wenn man genauer hinhört, ist das Gleichnis aber gar nicht so verständlich. Zuerst klein, dann groß. Okay. Was aber bedeutet das für das Reich Gottes? Ist es jetzt klein, später groß? Jetzt als Spur, später ganz? Was heißt denn das? Und was bedeutet es, wenn gesagt wird, dass die Person, die gesät hat, nicht einmal weiß, wie der Samen wächst und keimt? Dass sie schläft und wieder aufsteht, also wartet?

Lebenskunst
Sonntag, 17.6.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Die Gleichnisse geben, so einfach sie scheinen, doch viele Rätsel auf. Diverse Interpretationen sind die Folge. Moralisch ausgedeutet, heißt es dann: Deine kleine Tat von heute wird später große Früchte tragen. Ist das Vertröstung? Politische Interpretationen regen dazu an, im Hier und Jetzt das Reich Gottes zu verwirklichen. Dabei ist hier von großen Taten gar keine Rede. Eher vom Abwarten. Also von der Zuversicht, dass das Große im Kleinen schon enthalten ist. Was aber heißt das konkret? Gleichnisse scheinen mehr zu verrätseln als aufzuklären. Angesichts all dieser Fragen verwundert der Absatz nicht, in dem es heißt: „seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war“.

Es geht um Leben

Ich bin leider nicht dabei, wenn er es ihnen erklärt. Aber vielleicht wäre ich enttäuscht. Irgendwer wird bei Erklärungen von Erzählungen immer enttäuscht. Eine Interpretation von Becketts Drama „Warten auf Godot“ könnte nie und nimmer den literarischen Text ersetzen.

Die gewählten Bilder – Samen, Senfkorn – sind übrigens, das fällt auf, keine Sprache des Triumphes. Dieses Reich Gottes hat und besitzt man nicht. Man kann damit nicht protzen. Man kann aber mitwirken. Handlungsanweisungen und Zielrichtung gibt der gesamte Kontext. Im Markusevangelium heißt es schon bald am Anfang: „Kehrt um!“ Und nach der Lektüre des gesamten Textes klärt sich auf, wie und woraufhin das alles immer wieder zu lesen ist, schreibt der Soziologe Bruno Latour, nämlich: „Es geht nicht um Tod, sondern um Leben.“