Die Aufklärung in der islamischen Welt

In der Tradition verhaftet, rückständig und modernitätsfeindlich: So wird die islamische Welt von vielen wahrgenommen. Der Islam brauche eine Aufklärung, heißt es daher oft. Dass die Aufklärung die islamische Welt bereits fand und veränderte, zeigt nun ein Buch.

Immanuel Kant, Jean-Jacques Rousseau, Voltaire und David Hume gelten als einige der wichtigsten Vordenker der Aufklärung. Wie die vier Reiter der Apokalypse läuteten sie zwar nicht die letzten Tage der Welt, aber den Umbruch in eine säkularisierte und demokratischere Gesellschaft ein.

Im 17. und 18. Jahrhundert war die Aufklärung Motor für einen gesellschaftlichen Wandel: Geprägt vom Vernunftgedanken und dem Streben nach Gleichheit, Freiheit, Toleranz und Frauenrechten veränderte sie den Westen nachhaltig und mit ihm das Christentum.

Istanbul, Kairo und Teheran im Mittelpunkt

Doch was geschah zu dieser Zeit in der islamischen Welt? Etwa in Ägypten, in der Türkei und im Iran? Die Moderne machte nicht vor Istanbul halt, wie der britische Journalist Christopher de Bellaigue („Guardian“, „Economist“, „New York Review of Books“) in seinem Buch „Die islamische Aufklärung“ erzählt.

Buchcover "Die islamische Aufklärung" von Christopher de Bellaigue

S. Fischer

Buchhinweis

Christopher de Bellaigue: Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Bischoff. S. Fischer, 544 Seiten, 25 Euro.

Der Autor stellt sich darin gegen die westliche Sicht auf die arabische Welt und räumt mit Vorurteilen auf. Auf 544 Seiten setzt er sich vor allem mit der Geschichte von Istanbul, Kairo und Teheran auseinander. Warum gerade diese Städte? Dorthin „blickte der Verstand des Islam im 19. und dem größten Teil des 20. Jahrhunderts“, so „wie das Herz des Islam nach Mekka blickt“, begründet der Autor den Fokus auf die drei Metropolen.

Reformation, Aufklärung und Revolution

De Bellaigue stellt Menschen vor, die sich für Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit und Liberalität einsetzten - Frauen und Männer, deren Namen den meisten Leuten westlich von Istanbul unbekannt sein dürften.

„Die in diesem Buch beschriebenen Menschen werden uns vor Augen führen, dass der Islam in den letzten zwei Jahrhunderten einen schmerzhaften, aber zugleich auch beglückenden Wandel erfahren hat - der zugleich eine Reformation, eine Aufklärung und eine industrielle Reformation war“, verspricht der Autor in seiner Einleitung.

Frauenrechte und Menschenverstand

Eine dieser Menschen ist Fatima Baraghani (1814 bis 1852), sie war eine frühe Vorkämpferin für Frauenrechte. Die persische Dichterin trat in der Öffentlichkeit ohne Schleier auf und schloss sich dem Babismus, der auch für eine bessere Stellung der Frau stand, an. Für ihr Engagement wurde die Perserin sogar hingerichtet.

Wie im Westen kämpften auch in der Türkei Frauen für Gleichberechtigung. So konnte man 1869 in einer türkischen Frauenzeitschrift lesen: „Männer sind ebenso wenig dafür geschaffen, Frauen zu dienen, wie Frauen, von Männern beherrscht zu werden.“ Angesichts der Ungleichbehandlung der Geschlechter stellte die Autorin fest: „Niemand, der mit einem gesunden Menschenverstand ausgestattet ist, akzeptiert das.“

Moderne brachte mehr Freiheit für Frauen

Eine der ersten muslimischen Schriftstellerinnen war Fatma Aliye (1862 bis 1936). Zudem etablierte sie sich als eine Verfechterin von Frauenrechten. Die Autorin reiste allein durch das aus islamischer Sicht „ungläubige“ Europa - etwa, um ihre zum Katholizismus konvertierte Tochter in einem Orden in Paris zu besuchen.

Fatma Aliye

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Fatma Aliye

„Dass eine Frau ihres Standes solch ein Maß an Autonomie beanspruchte, wäre in ihrer Jugendzeit noch undenkbar gewesen“, schreibt de Bellaigue. Ihr Vorgehen hätte damals „schlimme Zweifel an ihrer Sittsamkeit geweckt“. Doch die Ideen der Moderne und mit ihr die Neubewertung dessen, was sich für eine Frau ziemt, beeinflussten unweigerlich auch das Leben in der islamischen Welt.

Islamische Blütezeit und Kreuzzüge

Die islamische Zivilisation machte über die Jahrhunderte hinweg eine abwechslungsreiche Entwicklung durch, die von Öffnung und Verschließung zum Westen geprägt war. So holte man im 8. und 9. Jahrhundert etwa den gesamten Schriftenbestand der griechischen Kultur nach Bagdad, und die islamische Welt leistete selbst zahlreiche Beiträge zum menschlichen Wissen - zum Beispiel in den Bereichen der Mathematik, Medizin sowie Astronomie.

Islamische Philosophen ermutigten zu Zweifel und Spekulationen - davon war auch der Koran nicht ausgenommen, was freilich auf Widerstand stieß: Ein Wettstreit der Ideen zwischen Philosophie und Fundamentalismus war die Folge.

Die Blütezeit der islamischen Kreativität wurde allerdings durch interne Konflikte gehemmt, die Glaubensgemeinschaft spaltete sich in Sunniten und Schiiten, die sich gegenseitig bekämpften. Schließlich führten die Kreuzzüge Ende des 11. Jahrhunderts dazu, dass islamische philosophische Denker eine Niederlage erlitten. Denn die Kreuzzüge wurden als „Zeichen göttlichen Unmuts gedeutet“, anstelle des Zweifels sollte nun die Gewissheit treten. Ziel des Glaubens sollte nicht sein, Gott zu erkennen, sondern ihm zu gehorchen. Die islamischen Länder verschlossen sich wieder.

Muslimische Welt nahm säkulare Werte an

Das änderte sich schließlich im 19. Jahrhundert: Die islamische Zivilisation ließ westliche Einflüsse wieder zu und übernahm viele liberale, säkulare Werte. Reformen wurden durchgeführt. In dieser Phase verkündete das Osmanische Reich die Gleichheit zwischen muslimischen und christlichen Untertanen, verbot den Sklavenhandel, und auch „die Trennung der Geschlechter begann ihren Niedergang“, beschreibt de Bellaigue in seinem Buch. Zudem wurde die Macht der Mullahs und Scheichs sowie ihre Privilegien beschnitten.

Istanbul im Jahre 1870

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Istanbul im Jahre 1870

Die Muslime und Musliminnen seien zwar nicht die Urheber der Leistungen gewesen, die heute mit der Aufklärung assoziiert würden, doch die oftmals geäußerte These, sie hätten sich von Wissenschaft, Demokratie und Gleichheitsgrundsatz ferngehalten, „ist Unsinn“, so de Bellaigue. Es habe sehr wohl eine islamische Aufklärung gegeben, „die unter dem Einfluss des Westens stand, aber zu einer eigenen Form fand“, schreibt der Autor.

Politische und radikale Gegenbewegung

In dem Buch wird die Geschichte der islamischen Welt detailreich geschildert und anhand zahlreicher Porträts lebendig gestaltet. Schließlich geht der Autor der wichtigen Frage nach, wie und warum die Früchte der islamischen Aufklärung verkümmerten.

Der Erste Weltkrieg sei eine „Wasserscheide in der Geschichte der islamischen Aufklärung“ gewesen. Nachdem der Nahe Osten zu großen Teilen unter dem Westen aufgeteilt wurde, verliehen viele Muslime ihrer Abscheu vor der kolonialen Ausbeutung in Widerstandsideologien Ausdruck: Der politische Islam entstand.

Aus ihm entsprang schließlich der gewaltverherrlichende „radikale Islam“, dessen Anhängerinnern und Anhänger westliche Errungenschaften nicht nur ablehnen, sondern auch die Bevölkerung in islamischen Ländern terrorisieren und für Anschläge auf der ganzen Welt verantwortlich sind. De Bellaigue: „Die von einer Minderheit der Muslime heute oft glorifizierte Gewalt und Unwissenheit sollte in Wirklichkeit als eine Art Bumerang der islamischen Aufklärung verstanden werden - als eine, wenn auch verabscheuungswürdige, Facette der Moderne selbst.“

Clara Akinyosoye, religion.ORF.at

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