Islam: Religion ohne Mittelalter
Ganz generell geht es Bauer in „Warum es kein islamisches Mittelalter gab“ um ein Überdenken überkommener Sichtweisen: Er findet schon den Begriff „Mittelalter“ problematisch, ist er doch unter Historikerinnen und Historikern selbst umstritten: Zu willkürlich sei er, weil innerhalb des für gewöhnlich angenommenen zeitlichen Rahmens, zwischen dem 5. und dem 15. Jahrhundert, bestünden einfach viel zu starke Brüche und Unterschiede. Es dürfte sich heute „schwerlich ein Historiker finden lassen, der tatsächlich glaubt, die Zeit von 500 bis 1500 stelle eine eigenständige, relativ einheitliche Epoche dar“, schreibt Bauer.
Karl der Große und die Tang-Zeit
Das ist kompliziert genug - doch vor allem kritisiert der Autor die übliche Praxis, für Europa geltende und (eben auch nur mehr oder weniger gut) passende Periodisierungssysteme wie den Mittelalter-Begriff anderen Kulturen überzustülpen. Oder werde etwa auch von der „tangzeitlichen Karolingerzeit“ gesprochen? „Die Tang-Zeit (Ära der Tang-Kaiserdynastie, 618-907, Anm.), scheint es, ist aus China nicht hinausgekommen“, so Bauer ironisch - mit dem Mittelalter verhalte es sich laut landläufiger Meinung hingegen ganz anders.
C H Beck Verlag
Buchhinweis
Thomas Bauer: Warum es kein islamisches Mittelalter gab. C. H. Beck Verlag, 175 Seiten, 23,60 Euro
Denn gleichzeitig spreche man sehr wohl etwa von dem Kalifen Harun ar-Rasid (786–809), einem Zeitgenossen Karls des Großen, als „nahöstlichem Herrscher des Mittelalters“. Daher gelte es zu überprüfen, so Bauer, inwieweit es „genug Gemeinsamkeiten (gebe), um von einer einzigen Epoche Mittelalter zu sprechen, die sowohl Europa als auch Nordafrika, den Nahen Osten, Mittel- und Zentralasien vereint“. Dass in seinen Augen der „Begriff Mittelalter zutiefst eurozentrisch“ ist, schickt Bauer voraus.
Nicht zuletzt ortet er im „Zurück-ins-Mittelalter-Diskurs“ auch eine Abwertung des Islam: Schließlich ist der Begriff „Mittelalter“ wie auch „mittelalterlich“ im Allgemeinen nicht positiv konnotiert. Bauer illustriert das mit einem „Spiegel“-Cover von 1979 kurz nach dem Sturz des Schahs und der Rückkehr Ajatollah Chomeinis in den Iran: „Das Titelbild zeigt einen säbelschwingenden Krieger auf einem Pferd, hinter ihm eine Frau, die komplett in ein tschadorartiges Gewand eingewickelt ist. Der Titel lautet: ‚Zurück ins Mittelalter‘.“
Bildung auf hohem Niveau
Anhand nach dem Alphabet geordneter Stichworte will der Islamwissenschaftler in der Folge zeigen, wie unterschiedlich sich die Kulturen des arabischen Raums und die der europäischen Welt im Mittelalter entwickelten. So erfahren Leserinnen und Leser, dass in der fraglichen Epoche im islamischen Kulturraum wesentlich mehr Menschen - auch „einfache“ - des Lesens und Schreibens mächtig waren als in Europa, wo die Schriftlichkeit fast ausschließlich ein Werkzeug von Geistlichen war.
Soziale Mobilität sei ein bestimmender Faktor etwa im Kalifat gewesen: „Selbst Christen, Juden und Sabier (also eigentlich Heiden) bekleideten immer wieder hohe und höchste Staatsämter.“ Überhaupt sei in islamischen Gesellschaften religiöse Toleranz großgeschrieben worden, so Bauer. Zum einen gab es diversere Minderheiten als im Westen, der mehr oder weniger nur das Judentum als religiös „Anderes“ kannte.
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Zum anderen waren diese wie andere religiöse Minderheiten (die etwa dem Zoroastrismus oder dem Christentum angehörten) rechtlich besser abgesichert und verfügten über „ein hohes Maß an Autonomie“ - jedenfalls waren sie nur in Ausnahmefällen Verfolgung und Pogromen ausgesetzt, während in Europa „Judenverfolgung eine Konstante“ war.
Die Bedeutung von Dachziegeln
Eine „ungebrochene Kontinuität“ von der Antike in die Kultur des Nahen Ostens der fraglichen Zeit ortet der Islamwissenschaftler in vielen Bereichen, darunter so unerwartete wie die Verwendung von Dachziegeln und die Verarbeitung von Glas. Doch auch einige der wichtigsten religiösen Vorstellungen wichen laut Bauer stark voneinander ab: Für das christliche Mittelalter so prägende Ideen wie die Erbsünde und die Hölle als Ort ewiger Strafen und Verdammnis kennt der Islam so nicht.
Medizin, Münzgeld, Liebesdichtung
Zu den stärksten Belegen für die Annahme, dass es in der (später) islamischen Welt einen bruchloseren Übergang aus der Antike gab, zählt die Medizin: Nicht nur erhielten die Ärzte des arabischen und persischen Raums wichtige medizinische Werke der Antike, etwa das des griechischen Arztes Galen, durch Übersetzungen und Abschriften „am Leben“, sie entwickelten Heilmethoden und Techniken auch weiter. Auch dem Einsatz von Münzen in antiker Tradition widmet sich Bauer. Das Kalifat habe sich „als direkte Fortsetzung sowohl des oströmischen als auch des persischen Reichs“ gesehen, was unter anderem am Vergleich von Münzprägungen erkennbar sei.
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Die im arabischen und persischen Raum verbreitete „romantische“ Liebesdichtung fand nachweislich Eingang in die mittelalterliche Troubadour-Dichtung Europas. Nicht zuletzt hielten islamische Gelehrte auch die Traditionen griechischer Philosophen wie Aristoteles und Sokrates als „Sachwalter“ hoch. Ab dem elften Jahrhundert, schreibt Islamwissenschaftler Bauer, sei dieses antike Wissen „in weiterentwickelter Form in die lateinische Welt“ zurückgeflossen.
Keine Renaissance „notwendig“
Damit schließt Bauer die Beweisführung ab, „dass mit einem antiken Erbe auf jeweils sehr unterschiedliche Weise umgegangen wird und dass allein die Gemeinsamkeit des Erbes es nicht per se rechtfertigt, eine gemeinsame historische Epoche anzusetzen“. Ein islamisches Mittelalter habe es nie gegeben, daher sei auch keine islamische Renaissance „notwendig“ gewesen.
Bauer räumt auch mit beliebten Geschichtsmythen auf, wenn etwa „in eigenwilliger Deutung der Tatsachen jene Kultur, die das antike Erbe am besten bewahrte, als deren Zerstörer gebrandmarkt“ werde: Die „arabischen Eroberungen sprengten endgültig den um das Mittelmeer gelegenen Großraum der antiken Lebenswelt und zerstörten vor allem dessen kulturelle und religiöse Einheit“, heißt es etwa in einem kirchenhistorischen Werk von 1990.
Eine echte Zeitenwende für den Raum zwischen Gibraltar und dem Hindukusch sieht der Autor im 11. Jahrhundert: In dieser Zeit hätten sich die Lebensbedingungen grundlegend geändert, „der Beginn einer neuen Epoche (...) ist offensichtlich“. Bauer redet von einer „Periode der ausgehenden Spätantike“. „Warum es kein islamisches Mittelalter gab“ ist ein hochgelehrtes und gleichzeitig gut verständliches Buch, das seine These reich mit Quellen und umfassendem Fachwissen stützt.
Johanna Grillmayer, religion.ORF.at