Christentum, Islam und das Erbe der Aufklärung
Der Wiener Historiker und Universitätsdozent Georg Cavallar hat dem Themenkreis Aufklärung und Religion(en) zuletzt zwei Bücher, eines davon mit Schwerpunkt auf den Islam, gewidmet. Unter anderem will er dem „Klischee von der religionsfeindlichen europäischen Aufklärung“ entgegentreten.
Aufklärung
Unter Aufklärung wird eine im Europa des 18. Jahrhunderts entstandene Geistesströmung verstanden, die sich verstärkt der Erfahrung, den (Natur-)Wissenschaften und der Vernunft zuwandte. Prägend waren Denker wie Voltaire, Denis Diderot, Jean-Jacques Rousseau, John Locke und Immanuel Kant.
Ganz klar seien Aufklärer gegen „Fanatismus, Vorurteile und Aberglauben“ aufgetreten, sagte der Experte im Gespräch mit religion.ORF.at. Auch habe es Kritik an der Amtskirche und auch an der Theologie gegeben, besonders wenn sie als dogmatisch gesehen wurde. Der Mainstream der Aufklärer sei jedoch entweder deistisch oder theistisch (Glaube an einen Gott aus rationalen Gründen bzw. an einen Gott, der lenkend eingreift, Anm.) gewesen - aber sie waren keine Atheisten.
Aufklärer im Christentum verwurzelt
Das zeige sich etwa daran, „dass sich ihre Toleranzforderung meist nicht auf Atheisten erstreckte“, so Cavallar. Aufklärer wie John Locke (1632 - 1704), der die Menschenrechte maßgeblich mit beeinflusste, waren stark im Christentum verankert. Die Ablehnung des Atheismus hielt sich bis ins späte 18. Jahrhundert mit dem Argument: „Nur wer an Gott glaubt, kann moralisch sein.“ Diese Vorstellung finde sich bei Voltaire (1694 - 1778) ebenso wie bei Locke. Erst spätere Aufklärer wie Immanuel Kant (1721 - 1804) kritisierten das und argumentierten, Moral sei etwas Eigenständiges, nicht abhängig von der Theologie.
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„Wohlwollendes Verhältnis“
Allerdings habe es Versuche gegeben, eine „natürliche Religion, manchmal auch als Vernunftreligion bezeichnet“, zu begründen. „Das richtete sich explizit gegen religiösen Fanatismus, gegen naiven Wunderglauben, gegen theologische Dogmen“, so der Experte.
Viele Aufklärer seien gerade dem Neuen Testament sehr positiv gegenübergestanden - sie argumentierten, Christus habe eine „moralische Religion gelehrt, deren eigentlicher Gottesdienst die Nächstenliebe sei“. Alles in allem hatten die Aufklärer „ein sehr wohlwollendes Verhältnis zum Christentum“, sagte Cavallar.
Blickwechsel Richtung Zukunft
Die Zeit der Aufklärung wird oft als Paradigmenwechsel bezeichnet: „Der Blick richtete sich von der Vergangenheit zur Zukunft.“ Nicht mehr der Versuch, sich in Richtung Urkirche „zurückzuverwandeln“ (der etwa bei Martin Luther noch sehr stark zu finden war), sei im Mittelpunkt gestanden, vielmehr entstand im 18. Jahrhundert der Gedanke: „Die Vergangenheit ist weitgehend irrelevant, wir orientieren uns an der Zukunft und an dem, was rational begründbar ist.“
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„Das ist die Vernunft- oder die natürliche Religion, die abgespeckt ist und versucht, den Ballast der Tradition loszuwerden und sich auf den Kern des Religiösen zu konzentrieren“, so der Historiker.
Zwar sei die „protestantische Variante“ der europäischen Aufklärung um einiges weiter gegangen, doch habe es sehr wohl auch eine katholische Aufklärung gegeben, die sich etwa gegen „naive Volksfrömmigkeit und Aberglauben“ gerichtet habe, sagte der Experte. „In England zum Beispiel war viel mehr möglich, auch in Preußen. Anders war das in der katholischen Habsburgermonarchie, in Italien und Spanien.“
Aufklärung als Prozess
Heute sehe man Aberglauben in vielen Bereichen wieder - Stichwort Esoterik. Hat die Aufklärung also versagt, reicht den Leuten die Rationalität nicht? Cavallar betrachtet Aufklärung als „Prozess, der nicht an sein Ende kommt“. „Jede Generation muss neu damit anfangen, sich das kritische reflexive Selberdenken selbst zu erwerben.“ Ein Problem sei der Fanatismus, der in verschiedenen Varianten auftreten könne: als religiöser, als ideologischer, als politischer. Das zeige sich in Elementen wie „binärem Denken, willkürlichen und klischeehaften Behauptungen“ - das erkenne man derzeit vielerorts, darunter auch in einigen islamischen Ländern.
Cavallar weiter: „Aufklärung als Reflexionsprozess ist grundsätzlich in jeder Gesellschaft möglich. Eine islamische Aufklärung in diesem Sinne ist schon längst im Gang.“ Er stellt in dem Buch „Islam, Aufklärung und Moderne“ Vergleiche zwischen „europäischer“ und „islamischer“ Aufklärung an.
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Kritisch sieht der Autor Tendenzen zum „Islam-Bashing“, das - dank vielfach verkaufter Bucherscheinungen - „ein gutes Geschäft“ geworden sei. Behauptungen wie etwa, der Islam sei „wesensmäßig totalitär intolerant“ und könne „per definitionem keine Aufklärung haben“, nennt er „einfach unglaublich fragwürdig“.
Muslime mit eigenen Begriffen
Viele „Reformmuslime“ würden den Begriff Aufklärung allerdings lieber vermeiden, „weil sie wissen, dass er in der muslimischen Community negativ besetzt ist“.
Buchhinweise
- Georg Cavallar: Gescheiterte Aufklärung? Ein philosophischer Essay. Kohlhammer Verlag, 202 Seiten, 24,70 Euro.
- Georg Cavallar: Islam, Aufklärung und Moderne. Kohlhammer Verlag, 226 Seiten, 26,70 Euro.
Sie würden lieber Ausdrücke aus der eigenen Tradition verwenden, wie „idschtihad“ (etwa: „Bemühen um ein eigenes Urteil“) und „nahda“ (sinngemäß „Verbinden des Islams mit der Moderne“, vergleichbar mit „Renaissance“), um an eigene Traditionen und Identität anschließen zu können.
Hier gehe es um den Gebrauch des eigenen Denkens im Rahmen des Korans, der aber auch in sehr weitem Sinne interpretiert werden kann. Als Beispiele führt der Autor liberale Muslime wie den aus Wien stammenden Theologen Mouhanad Khorchide, den deutschen Schriftsteller und Islamwissenschaftler Navid Kermani und die kanadische Autorin und Aktivistin Irshad Manji an.
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„Islam eine faire Chance geben“
Manji, „eine der eloquentesten Kritikerinnen der fundamentalistischen und islamistischen Strömungen“ und Verfechterin eines liberalen Islams (sie wurde einmal als „Osama bin Laden’s worst nightmare“ bezeichnet), fordert dennoch Fairness: „Ich war immer davon überzeugt, dem Islam eine faire Chance geben zu müssen.“
Daran, dass dem Erbe der Aufklärung hier wie dort noch großes Potenzial innewohnt, lassen beide Bücher Cavallars keinen Zweifel: Er erinnerte im Gespräch mit religion.ORF.at an ihre direkten Auswirkungen: den Abolitionismus, der letztlich zur Abschaffung von Sklaverei und Sklavenhandel führte, die Menschenrechte selbst (wenn auch lange Zeit nur für - privilegierte - Männer gültig) und die Verfassungen Frankreichs und der USA sowie ein generell anderer Zugang zu Religiosität - eine „Humanisierung des Religiösen“.
Johanna Grillmayer, religion.ORF.at