Trend zu „Demenzfreundlichkeit“ in Kirchen

Dass immer mehr Menschen an Demenz erkranken, ist auch eine Herausforderung für die Kirchen. Katholische und evangelische Pfarren wollen nun „demenzfreundlicher“ werden: Sie schulen ihr Personal und bieten Messen für demenzkranke Menschen an.

„Es passiert gerade in kleineren Gemeinden am Land, dass Menschen regelmäßig um acht Uhr, und zwar an jedem Tag, vor der Kirche stehen und warten, dass der Herr Pfarrer kommt. Aber er kommt nur am Sonntag“, erzählte die Leiterin des Fachbereichs Seniorenpastoral der Erzdiözese Wien, Beatrix Auer, im Gespräch mit religion.ORF.at. Wie sollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pfarre mit solchen Situationen umgehen? Das sind Fragen, mit denen Auer von mehreren Seiten konfrontiert ist.

Gottesdienstbesucher in der Regel älter

Laut einer Statistik des Liturgiereferates der Erzdiözese Wien sind rund 50 Prozent der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher 61 Jahre und älter. Schon allein aus Altersstrukturgründen werde das Thema Demenz „ein Zukunftsthema der Kirche sein“, so Auer. Etwa 130.000 Menschen in Österreich sind an Demenz erkrankt. Bis ins Jahr 2050 könnte sich die Zahl angesichts der steigenden Lebenserwartung verdoppeln, so Schätzungen. Die Pfarren werden also in Zukunft noch stärker mit an Demenz erkrankten Menschen und ihren Angehörigen zu tun haben.

Erkrankte verlieren einen Teil ihrer Erinnerungen, finden sich mit der Zeit alleine nicht mehr zurecht. Oft kommt es auch zu Wesensveränderungen. Wegen der Auswirkungen der Krankheit sind die Betroffenen in der Regel auf intensive Pflege angewiesen. An in der Kindheit Erlerntes können sich Erkrankte oft noch erinnern - selbst wenn sie ihre Angehörigen nicht mehr erkennen. So bleiben Betroffenen Kirchenlieder und Gebete oft noch im Gedächtnis. Die gewohnten Abläufe in einer Messe, religiöse Rituale und Gemeinschaft können auf Menschen mit Demenz sehr positiv wirken.

„Auffälliges Verhalten“ akzeptieren

Oftmals schämen sich Angehörige aber für die Krankheit und dafür, wie sie ihre Verwandten verändert. „Menschen mit Demenz sind manchmal verhaltensauffällig und es kann sein, dass sich vielleicht manche im Gottesdienst gestört fühlen, weil der Herr Huber jetzt auf einmal dazwischenredet oder aufsteht oder komische Antworten gibt“, sagte Auer.

Da müssten die Pfarrgemeinden sensibilisiert werden. Dass Menschen, die regelmäßig die Kirche besucht haben, der Gemeinde verloren gehen, „das darf nicht sein“, sagte Auer. Es müsse möglich sein, in der Pfarre auch alt werden zu können - und krank. „Menschen mit Demenz und ihre Angehörige müssen sich in ihren Pfarren nach wie vor zu Hause fühlen dürfen.“

Es sei hier eine Aufgabe der Kirche, genau hinzuschauen, wenn Gläubige plötzlich wegbleiben. Natürlich sei Demenz für die Pfarren eine Herausforderung, doch auch „eine Chance auf Begegnung auf Augenhöhe“. Auch wenn sich die Betroffenen verändern: „Der Mensch bleibt Abbild Gottes. Diese Würde hat er sein Leben lang.“

Schulungen für Pfarrer und Kirchenmitarbeiter

Die römisch-katholische und die evangelische Kirche haben beschlossen, die Herausforderung Demenz mit einem ökumenischen Schulterschluss anzugehen: „Demenz macht nicht vor einer Konfession halt“, sagte Auer. Gemeinsam mit der Pfarrcaritas und dem evangelischen Geriatrie-Referat wurde ein Kursangebot für Menschen in der Kirche entwickelt.

Nach Absolvierung des Kurses „Demenz-Kompetenz“ sollen die Kursteilnehmer fähig sein, in der Pfarre als Ansprechpartner für Fragen zum Thema Demenz zu dienen. Auer: „Es gibt dann in der Pfarre jemanden, der auch weiß, wie diese Krankheit ausschaut, wie man mit den Betroffenen kommuniziert, was sie für Bedürfnisse haben, was für ihre Angehörigen wichtig ist, wie man seelsorglich auf diese Menschen zugeht und wie man Liturgie für sie gestaltet.“ Zwei Kurse haben bisher stattgefunden. Im Jänner startet der dritte Lehrgang.

Demenzfreundliche Gottesdienst in der Servitenkirche im 9. Bezirk in Wien, 2019

CS Caritas Socialis

Das Thema Demenz beschäftigt auch die römisch-katholische Kirche

Die Teilnehmer seien aus evangelischen sowie katholischen Gemeinden - auch Ordensschwestern und Pfarrer seien dabei gewesen. Der Lehrgang werde gut angenommen. Das Thema ist, so Auer, „in den Pfarren angekommen“.

Gottesdienste feiern „mit allen Sinnen“

2013 fand in der Pfarre Neuerdberg erstmals ein sogenannter demenzfreundlicher Gottesdienst in Wien statt, also eine Messe, bei der auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz speziell Rücksicht genommen wird. Für sie kann ein normaler Gottesdienst mitunter zu herausfordernd sein.

Eine kürzere Dauer, weniger Wortanteil, dafür viele bekannte Kirchenlieder und einfache Sprache - darauf kommt es bei einem demenzfreundlichen Gottesdienst an. Weihrauch, Salbungen und der Einsatz von Symbolen sollen besonders die Emotionen ansprechen. Feiern „mit allen Sinnen“ nannte es die Ordenschwester der römisch-katholischen Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis, Karin Weiler, am Sonntag im ORF-Religionsmagazin „Orientierung“. Von Weiler kam die Initiative für den demenzfreundlichen Gottesdienst.

Demenzfreundlichkeit als Ausnahme?

Im September dieses Jahres fand die Messe zum sechsten Mal statt. Ehrenamtliche Demenz-Wegbegleiter der Caritas Socialis betreuten die Gottesdienstbesucher bei der Messe, Fahrtendienste brachten die Menschen aus Pflegeheimen sowie aus ihren Wohnungen zur Kirche.

Mittlerweile gibt es in mehreren Wiener Gemeinden - katholisch und evangelisch - „diese Bewegung, demenzfreundliche Gottesdienste anzubieten“, sagte Weiler. Eine Ausnahme bleiben sie dennoch, sie finden in den Pfarren schließlich nur einmal im Jahr, meist rund um den Weltalzheimertag, statt.

Normalität als Ziel

Das Ziel müsse sein, dass es Normalität ist, dass Menschen mit Demenz an normalen Gottesdiensten teilnehmen können und dass jeder so willkommen ist, wie er ist, sagte Beatrix Auer von der Erzdiözese Wien. Es soll „normal sein dürfen“, wenn Menschen mit Demenz mit spontanen Reaktionen im Gottesdienst auffallen.

Dass Kinder früher leise sein oder zu Hause bleiben mussten, habe sich mittlerweile auch geändert. „Es hat sich entwickelt, dass Kinder Kinder sein dürfen“, sagte Auer. Hin und wieder besondere Gottesdienste, die ganz gezielt auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz Rücksicht nehmen, hält Auer aber dennoch für wichtig.

„Hilflosigkeit spürbar“

Als Leiterin der Seniorenpastoral in der Erzdiözese Wien ist Auer bestrebt, das Thema in die Pfarren hineinzutragen und ist auch eine Ansprechpartnerin für Fragen rund um Demenz. Es erreichen sie Anfragen, etwa von Priestern, die mit ihrem Latein am Ende sind, die Tipps für die seelsorgliche Betreuung von Menschen mit Demenz brauchen: „Es ist auch eine gewisse Hilflosigkeit da“, sagte Auer.

Das soll sich ändern - durch Aus- und Weiterbildung. Dieses Jahr wird Auer erstmals beim Nachwuchs im Priesterseminar sein, um über dieses Thema zu sprechen. Es soll in Zukunft in einer kleinen Gemeinde am Land eben einen Kirchenmitarbeiter geben, der weiß, was zu tun ist, wenn jemand jeden Tag aufs Neue vor der Pfarre steht. Nicht sagen, „Haben’s vergessen? Die Messe ist erst am Sonntag“, rät Auer. Sondern: Die Betroffenen herzlich begrüßen, kurz plaudern und sie dann sicher nach Hause begleiten.

Clara Akinyosoye, religion.ORF.at

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