Ethik vs. Religion: Experten warnen vor Frontstellung

In der aktuellen Debatte über die Überführung des Schulversuchs Ethik in den Regelschulbetrieb haben Bildungsexperten vor einer Frontstellung Ethik- versus Religionsunterricht gewarnt.

Dies werde weder dem gemeinsamen Grundanliegen beider Fächer gerecht, das in der Förderung eines solidarischen Zusammenlebens liege, noch dem Selbstverständnis beider Fächer, unterstrichen Bildungsexperten bei einer Podiumsdiskussion am Montagabend in Wien - darunter die Leiterin des Schulamtes der Erzdiözese Wien, Andrea Pinz.

Sie begrüßte die von Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) angekündigte Einführung eines Alternativgegenstandes Ethik, betonte zugleich aber den bleibenden Wert religiöser Bildung für die Identitätsformung junger Menschen. Seit 1997 läuft in Österreich der Schulversuch Ethik, derzeit nehmen über 200 Schulen teil. Mit dem Schuljahr 2020/21 ist die Einführung von Ethik als Ersatzpflichtgegenstand zum Religionsunterricht an der Oberstufe geplant.

Religionsunterricht „mehr als Ethik“

Pinz äußerte sich im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema „Ethik und Religion in der Schule - Erfahrungen und Perspektiven“, die am Montagabend in der vom Bildungsministerium initiierten Reihe „Science Talk“ in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien stattfand. Mit Pinz diskutierten Georg Gauß von der Bundes-Arbeitsgemeinschaft der EthiklehrerInnen Österreichs sowie der Wiener Erziehungswissenschaftler und Fachdidaktiker Michael-Albert Jahn.

Ein Klassenzimmer mit Schülerinnen, Schülern und Lehrerin

APA/Harald Schneider

In Zukunft soll es Ethikunterricht alternativ zum Religionsunterricht geben

Religion schließe Ethik stets mit ein, erklärte Pinz, stehe aber zugleich für „mehr als Ethik“. Insofern leiste der Religionsunterricht einen bleibend wichtigen Beitrag zu einem „umfassenden Bildungsideal“. Sowohl ethische als auch religiöse Bildung würden schließlich zu den übergreifenden, alle Fächer gleichermaßen betreffenden Bildungszielen zählen, erinnerte Pinz. So wenig der Religionsunterricht ohne Wertbindung und Haltung auskomme, so wenig gelte dies daher auch für den Ethikunterricht.

Ziel: Eigenverantwortliches Handeln

„Das höchste Ziel ist ein verantwortungsvolles Handeln“, fasste Georg Gauß von der Bundes-Arbeitsgemeinschaft Ethik das Ziel von Ethikunterricht zusammen. Gegenüber dem Religionsunterricht habe er „den Vorteil, dass er konfessionsfrei ist und von verschiedenen Kirchen und Religionsgemeinschaften, Atheisten und Agnostikern gleichermaßen wahrgenommen werden kann“. Ethikunterricht stelle so einen „Mikrokosmos“ der Gesellschaft dar, etwas, was der konfessionelle Religionsunterricht nicht bieten könne.

Dass das Besuchen des Ethikunterrichts die Abmeldung vom Religionsunterricht voraussetze, sei „schon fast diskriminierend“. Dabei würden die steigenden Abmeldungszahlen vom Religionsunterricht eine klare Sprache sprechen, so Gauß.

Diesen Vorwurf wies Pinz entschieden zurück. Ethik und Religion seien oft deckungsgleich, Religion dürfe nicht von den Lehrplänen verschwinden. „Religion schließt Ethik ein, ist aber immer mehr als Ethik. Dieses Mehr der Religion ist ganz entscheidend für die Gesellschaft.“ Die religiöse Erziehung nicht außerhalb des öffentlichen Raumes zu gestalten, beuge Fundamentalismus vor. „Religion ist ein wichtiger Teil des Menschen. Dass diese Auseinandersetzung in Hinterhöfen und hinter verschlossenen Türen geschieht, kann nicht das Ziel der Gesellschaft sein.“ Das Christentum habe die europäische Geisteshaltung stark geprägt und sei deshalb auch aus dem ethischen Diskurs nicht wegzudenken.

Ethikunterricht auch für Unterstufe

Als wichtige Neuerung erachtete Pinz die Einrichtung des Ethikunterrichtes für die Sekundarstufe II. Dies könne jedoch nur ein erster Schritt sein - wünschenswert sei auch aus entwicklungspsychologischer Sicht, dass ein solcher Unterricht bereits für Schüler der Sekundarstufe I angeboten wird, da sich diese Altersgruppe in einer besondere Prägephase befänden.

Als problematisch erachtet die kirchliche Bildungsexpertin zu erwartende Engpässe bei der Ausbildung entsprechender Ethiklehrer. Es sei zu befürchten, dass zur Deckung des Bedarfes zumindest kurzfristig auf Zusatzqualifikationen und -Module gesetzt werde und damit Lehrpersonal ohne tiefgreifende akademische Qualifikation den Unterricht übernähme. Mittelfristig sieht Pinz die Ausbildungsangebote etwa an den Universitäten in Wien oder Graz als gute Basis für einen qualifizierten Ethikunterricht.

Für kontextbezogene Unterrichtsmodelle

Als Beispiel für die Offenheit des Religionsunterrichts verwies Pinz auf den den „dialogisch-konfessionellen Religionsunterrichts“ (dkRU) an derzeit 26 Wiener Schulen. Mit Zustimmung von Eltern, Schülern, Schule und Kirchen werden dabei Kinder unterschiedlicher Konfession gemeinsam unterrichtet. Getragen wird das Projekt gemeinsam von katholischer, evangelischer, altkatholischer und orthodoxer Kirche.

Schließlich appellierte Pinz an die Ethik-Vertreter, die nun eröffnete Chance gemeinsam zu ergreifen, vor dem Hintergrund der gewährten Schulautonomie „mutige Schritte zu gehen“ und bewusst kontextbezogene Unterrichtsmodelle für den Ethikunterricht zu entwickeln. Schließlich variiere die Schülerzusammensetzung bzw. die soziale und kulturelle Durchmischung stark je nach Standort - und sie bringe sehr unterschiedliche Anforderungen auch im Blick auf ethische Fragen mit sich.

Ethik-Vertreter: Hoffnung auf Ausweitung

Auf breite Zustimmung stieß die beabsichtigte Überführung des Schulversuchs Ethik in den Regelunterricht bei dem Lehrer, Erziehungswissenschaftler und Fachdidaktiker Michael-Albert Jahn - selbst Mitwirkender bei der Entwicklung des Curriculums für den Ethikunterricht -, sowie bei Georg Gauß von der Bundes-Arbeitsgemeinschaft Ethik.

Beide stimmten darin überein, dass es mittelfristiges Ziel sein müsse, den Ethikunterricht auch für die Sekundarstufe I einzuführen - und beide betonten ihrerseits, dass es ihnen keineswegs um eine Frontstellung Ethik- versus Religionsunterricht gehe. Man arbeite an vielen Schulen eng und produktiv zusammen, betonten die Bildungsexperten. „Wir wollen kein künstliches Gegeneinander beider Fächer stilisieren“, brachte es Jahn auf den Punkt.

Rahmenbedingungen schaffen

Gauß verwies darüber hinaus auf die Mühen, die mit der Einführung eines flächendeckenden Ethikunterrichts noch zu meistern seien: So etwa das Problem der Klassenbildungen bzw. -Teilung. Wenn es die Möglichkeit der Gruppenbildung auch für den Ethikunterricht gäbe, würde dies zu einer deutlichen Kostenminderung beitragen, so Gauß. Dazu wäre eine Änderung im Religionsunterrichtsgesetz notwendig.

Kritik übte Gauß außerdem an der bestehenden Abmelde-Regelung, derzufolge Schüler den Ethikunterricht nur dann besuchen können, wenn sie sich zuvor vom Religionsunterricht abmelden. „Das empfinde ich als diskriminierend“, so Gauß. Wünschenswert wäre hingegen eine verpflichtende Opt-In-Variante für eines der beiden Fächer. „Wenn man schon die Gemeinsamkeiten betont, so sollten diese auch in den Rahmenbedingungen zum Ausdruck kommen“.

Kritik an Ethik als Ersatz

Kritik an der geplante Einführung eines Ethikunterrichts ausschließlich für Schülerinnen und Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, kam am Dienstag von Eytan Reif, Sprecher der Initiative Religion ist Privatsache, und dem Religionspädagogen Anton Bucher zu kurz. Ethik solle vielmehr für alle Schüler ab der ersten Klasse verpflichtend sein, hieß es bei einer Pressekonferenz am Dienstag.

„Es sind grundsätzlich alle für einen Ethikunterricht - es geht dabei nur um die Modalität“, konstatierte Eytan Reif, Sprecher der Initiative Religion ist Privatsache. Umso mehr verblüffe es ihn, dass Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) als Hauptargument für dessen Einführung als Ersatzunterricht nur für „Religionsverweigerer“ die „Abkehr vom Kaffeehausbesuch“ nenne.

Ethikunterricht nicht durch Religionslehrer

Zumindest sei der Minister aber ehrlich. „Er macht klar, wohin die Reise führen soll - zu weniger Abmeldungen vom Religionsunterricht“, so Reif. Die Einstellung laute offenbar: „Der Ethikunterricht hat sich dem Religionsunterricht unterzuordnen und hat diesem zu dienen.“ Dies lehne man ab: „Weder ist Ethik Ersatz für Religion, noch sind sie gleichwertig.“

Daher stehe man auch dem Plan Faßmanns negativ gegenüber, dass vor allem Religionslehrer mit Zusatzausbildung Ethik unterrichten sollen. „Wir brauchen ein eigenes Lehramtsstudium.“ Darüber hinaus sollten Religionslehrerinnen und Religionslehrer nicht in der selben Schule auch Ethik unterrichten dürfen, um Interessenskonflikte zu vermeiden - eine solche Regelung gebe es etwa in Bayern und Baden-Württemberg.

Ethik als Pflichtgegenstand

Der Religionspädagoge und Erziehungswissenschafter Anton Bucher (Uni Salzburg), der für das Bildungsministerium bereits vor rund 20 Jahren die derzeit laufenden Schulversuche evaluiert hat, plädierte ebenfalls für Ethik als Pflichtgegenstand - und zwar nicht nur in der Oberstufe. „Mit 15, 16 Jahren sind viele ethische Einstellungen schon habitualisiert und lassen sich kaum mehr ändern.“

religion.ORF.at/KAP/APA

Mehr dazu:

Links: