„Ich kann noch die Messe feiern“

Es muss wohl 15 Jahre her sein, denn meine Mutter lebte noch und war in ihrer eigenen Wohnung. Es war ein 16. September, mein Namenstag. Ich war bei meiner Mutter auf Besuch und stand am frühen Morgen unter der Dusche, als sie einen Anruf erhielt, der mir galt.

Gedanken für den Tag 24.8.2016 zum Nachhören:

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Noch halb nass und ins Handtuch gewickelt sprach ich mit einem Mann, der sich nur schwer verständlich machen konnte. Mühsam rang er sich den Satz ab: „Cornel, ich habe heute bei der Messe Deiner gedacht.“ Jetzt erkannte ich ihn: Es war mein ehemaliger Musik- und Orgellehrer Ernst Payr. Er vermochte mir noch zu erzählen, dass er einen Herzinfarkt und einen Schlaganfall hinter sich hatte und seine Wohnung nicht mehr verlassen konnte. Und dann der glückliche Triumpf: „Aber weißt Du, ich kann noch jeden Tag die Messe feiern.“

Tor zur Musik

Ernst Payr war Priester wie damals noch viele Professoren am Gymnasium Borromäum in Salzburg. Er war ein konservativer Herz-Jesu-Verehrer, den man nie ohne das sogenannte Cholar, den Priesterkragen, sah und der in Wut geriet, als ich einmal ein Getränk zur Orgel mitgebracht hatte; ich musste es sofort aus der Kirche entfernen. Gleichzeitig war Ernst Payr ein unverwechselbares Original: Er fuhr einen Sportwagen und rauchte Virginia-Zigarren.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Ihm verdanke ich meine ersten Konzert-Erfahrungen, denn er warb mich als Mitglied für die Jeunesse musicale, die Musikalische Jugend Österreichs und er begrüßte, dass ich mir die Komponisten Béla Bartók, Igor Strawinsky, Arnold Schönberg und Paul Hindemith als Schwerpunkt für meine Musik-Matura aussuchte, und er war der Lehrer, der mir am nächsten stand, denn ich hatte acht Schuljahre hindurch jede Woche meine Orgelstunde mit ihm. Unter seiner Leitung habe ich bei einigen kleinen Mozart-Messen den Orgelpart gespielt.

Am meisten ist mir freilich sein Satz bei jenem Telefonat unter die Haut gegangen: „Aber weißt Du, ich kann noch jeden Tag die Messe feiern.“ Seither denke ich darüber nach, was mich so aufrecht halten könnte wie ihn die Messe, wenn ich mich kaum mehr bewegen und nur mit Mühe sprechen könnte. Und ich weiß noch keine Antwort. Aber zu seltenen Gelegenheiten rauche ich eine Virginia, denke an Ernst Payr und bin ihm dankbar, dass er mir das Tor zur Musik geöffnet hat.

Musik:

Zoltan Kocsis/Klavier: „Ballade, andante“, „Allegretto“ und „Allegro moderato“ aus: „Gyermekeknek Sz 42 für Klavier, Heft 1 - 4“ von Bela Bartok
Label: Hungaroton HCD 123042