Bibelkommentar zu Apostelgeschichte 6, 1 – 7

Die Gemeinschaft wächst. Immer mehr Jüdinnen und Juden, so beschreibt es die Apostelgeschichte, sehen in Jesus den erwarteten Messias und bekennen sich zu ihm.

3000 kommen nach der Pfingstpredigt des Petrus zum Glauben. Bald werden es 5000 sein. Sie bilden eine Gemeinschaft, die als sehr ideal beschrieben wird. Ihre Mitglieder verschenken ihr Hab und Gut und geben jedem so viel, wie er nötig hat. Sie haben alles gemeinsam. Keineswegs gilt dieses Ideal nur für eine kleine Gruppe. Nach dem Verständnis der Apostelgeschichte ist diese Gemeinschaft das endzeitliche Volk Israel – ein Vorschein und die Verwirklichung dessen, was Gott für alle Menschen vorgesehen hat. Es ist die Idee einer universalen Gemeinschaft, in der es keine Trennung mehr zwischen Zugehörigen und Außenstehenden, Mitgliedern und Fremden, aber auch Habenden und Bedürftigen mehr gibt.

Mirja Kutzer
ist Professorin an der Katholisch-Theologischen Universität Kassel

Das Teilen funktioniert nicht mehr

Doch schon wenig später scheint diese Idealität fraglich. Auf einmal ist die Rede von zwei Gruppierungen – von Hellenisten und Hebräern. Markiert sind damit sowohl sprachliche wie kulturelle Differenzen. Die einen sprechen griechisch, die anderen aramäisch. Die Hebräer stammen aus Palästina, sind also einheimisch. Die Hellenisten sind zugezogen. Es handelt sich um Juden der hellenistischen Diaspora, die nach Jerusalem gekommen sind und sich nun zu Jesus bekennen. Aufgrund der Sprachbarriere gehören die Gruppierungen wohl unterschiedlichen Synagogen an, hören unterschiedliche Gottesdienste. Spekuliert wird über theologische Differenzen, etwa einen anderen Umgang mit der Thora, dem jüdischen Gesetz.

Es mag eine allgemeine Weisheit sein, dass Differenzen zwischen Gruppierungen soziale Konsequenzen zeitigen und diese zuerst bei den Schwächsten spürbar werden. Die Hellenisten beschweren sich, dass die Witwen ihrer Gruppe bei der täglichen Versorgung mit Nahrung übersehen werden. Witwe zu sein bedeutet in der damaligen Gesellschaft vielfach eine Krisensituation. Es sind Frauen ohne männlichen Schutzherrn – ohne Ehemann, Brüder oder Söhne. Ihre rechtliche Stellung ist vage, ihre wirtschaftliche Situation oft prekär. Sie sind auf Almosen angewiesen. Doch die Lebensmittel, die offenbar von der Gruppe der Hebräer täglich an Bedürftige verteilt werden, kommen gerade bei den hellenistischen Witwen nicht an. Ob beabsichtigt oder nicht – das Teilen funktioniert nicht mehr, und die Differenzen der Gruppen haben damit zu tun.

Das wahre Volk Gottes?

Will die Gemeinschaft tatsächlich das wahre Volk Gottes sein, so kann sie sich freilich genau das nicht leisten. Dem Schicksal der Witwen gehört Gottes besondere Aufmerksamkeit. Ihr Notschrei, so heißt es in Ex 22, wird von Gott in jedem Fall erhört. Wie kann die Gemeinschaft, die diesem Gott entsprechen will, dann hinnehmen, dass diese hungern? Sie muss die Not der Witwen abstellen und damit auch einen Weg finden, mit den kulturellen wie theologischen Differenzen umzugehen. Das Leitungsgremium der Zwölf regt eine Wahl an. Sieben Männer aus der Gruppe der Hellenisten werden beauftragt. Die Gemeinschaft kann weiter wachsen.

Erfüllte Zeit
Sonntag, 14.5.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Die soziale Not der Witwen ist damit das erste Symptom, dass auch die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger Jesu gespalten, von Konflikten durchzogen ist. Dennoch bleibt der geschilderte Anfang – das Teilen, die Gemeinsamkeit – das Ideal. Es mag unrealistisch sein. Aber es sind solche Ideale, die uns helfen, angesichts von Differenzen und Konflikten, von Unterschieden zwischen dem Eigenen und dem Fremden nicht Abgrenzungen zu provozieren und die sozialen Folgen billigend in Kauf zu nehmen. Sie lassen uns nach Möglichkeiten suchen, wie wir zusammenleben können.