Bibelessay zu Matthäus 14, 22 - 33

Der eben gehörte Text aus dem Matthäusevangelium bringt eine der bekanntesten Geschichten um Jesus, seinen Gang auf dem See. Im Schott-Messbuch, einem offiziellen liturgischen Buch der Katholischen Kirche, trägt dieser Text die Überschrift: „Herr, befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme.“

Herr, befiehl! Das hat man an anderer Stelle schon mehrmals gehört, nämlich im Zusammenhang der Versuchungen Jesu in der Wüste, wie sie im Markus- Matthäus- und Lukasevangelium erwähnt werden. Die erste Versuchung wird eröffnet mit den Worten: Wenn du der Sohn Gottes bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird. – Diese Gleichheit des Befehls findet sich nicht im griechischen Text, sondern in der deutschsprachigen Einheitsübersetzung. Auch wenn es hier einen Unterschied gibt, von der Sache her geht es jedoch um Gleiches. Und wenn in der Versuchungsgeschichte der Versucher alles daran aufhängt, dass Jesus sich als Sohn Gottes beweisen soll, so steht diese Zuschreibung am Ende dieser Perikope: Wahrhaft, Gottes Sohn bist du.

Wolfgang Treitler
ist katholischer Theologe und Judaist

Gebetsüberlieferung Israels

Das hört sich nach einer Parallelaktion an, in der die Versuchungsgeschichte gewissermaßen niedergerungen wird: Der Versucher erkennt Jesus nicht als Sohn Gottes an, Petrus aber tut es. Der Versucher ist ausgebootet, ganz wörtlich ausgebootet. Aber nicht ganz. Denn das Motiv der Versuchung zeigt sich auch bei Petrus: Wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme! Wenn du es bist – ja, was eigentlich? Jesus sagt davor nur, dass er es ist. Wer ist er eigentlich?

Klarheit bekommt man, wenn man diese Geschichte aus der Gebetsüberlieferung Israels deutet, und zwar aus dem Teil des weithin unbekannten Psalms 107. Da liest man von Seeleuten, die Zeugen der Wunder Gottes wurden. Ab Vers 25 heißt es dort: „Ein Sturm peitschte das Meer. Wogen türmten sich auf, warfen die Schiffe hoch in die Luft und stießen sie sogleich wieder in die Tiefe. Da verloren die Seeleute jede Hoffnung. Sie wankten und taumelten wie Betrunkene, mit ihrer Weisheit waren sie am Ende. In auswegloser Lage schrien sie zum Herrn, und er rettete sie aus ihrer Not. Er bannte die tödliche Gefahr: Der Sturm legte sich und die Wellen wurden ruhig. Da jubelten sie, dass endlich Stille herrschte! Gott brachte sie in den sicheren Hafen, an das ersehnte Ziel. Sie sollen den Herrn preisen für seine Gnade und für seine Wunder, die er uns Menschen erleben lässt!“ Soweit dieser Gebetstext.

Gott rettet

Damit zeigt sich ein Zweifaches in Bezug auf die Geschichte von Jesu Gang auf dem See: Sie ist lesbar – erstens – als eine Vergegenwärtigung eines alten, bewährten Gebetes. Wer wirklich beten kann, kommt Gott nahe und erfährt Gott als Retter. Da geht es nicht um magischen Unsinn, den man sich ausdenkt oder verteidigt, sondern um das Vertrauen darauf, dass Gott Hilfe, dass Gott Rettung ist, und zwar in jeder Lebenslage.

Diese Geschichte ist auch lesbar – zweitens – als eine Geschichte, die andeutet, dass Beten gelernt werden muss, sonst kann man es nicht; und wenn man es nicht kann, versteht man manchmal die Welt nicht. Mehrmals kommen die Apostel und Jünger Jesu in den Evangelien schlecht weg. Sie kommen schlecht weg, weil sie noch nicht die sind, die sie sein sollten: im Gebet geübte Menschen.

Solch ein Mensch war Jesus. Er war gerecht, weil er die Tora lehrte und lebte, und er war ein betender Mensch, wie das Matthäusevangelium oft betont. Will man das zusammenfassen in einer einzigen Zuschreibung, dann sagt man wie Petrus: Er ist wirklich Sohn Gottes, d.h. ein gerechter, betender Zeuge des Gottes Israels, der allein rettet. Und genau diese Botschaft trägt Jesus in seinem eigenen Namen: das jüdische Jehoschua bedeutet: Gott rettet.

Auf der sicheren Seite

Solche Geschichten sind aufgeschrieben, damit sie auch die Gegenwart erreichen und ihr sagen: Man kann sich religiös vieles denken – wer weiß schon, was wirklich wahr ist? Man kann im Handeln viel versuchen, um das Beste zu geben – wer weiß schon, ob es wirklich gelungen ist?

Was man aber unbedingt lernen muss, ist zu beten. Das schafft Klarheit. Denn es lehrt zu sehen, wer wirklich retten wird und wer nicht; wer wirklich Gott ist und wer nicht; wer Gottes Zeugen sind, also Söhne und Töchter Gottes, und wer nicht. Diese Grundunterscheidung kommt aus dem Gebet und wird im Gebet praktiziert. Denn Gebete können sich nur an Gott richten, nie an Menschen oder geschaffene Dinge. Wer auf dieser Basis das Gebet übt, ist auf der sicheren Seite, was auch immer geschieht.