Bibelessay zu Jesaja 55, 6 - 9

„Erfüllte Zeit“: Die letzte Sendung unter diesem Titel! Mit Worten aus dem Buch Jesaja ist das für mich immer „erfüllte Zeit“! Das ist einfach so – bei meinem Lieblingspropheten. Viele seiner Verse kenne ich auswendig oder zutreffender: inwendig, „by heart“.

Immer wieder packt mich seine Wortgewalt, trägt mich seine Zuversicht. Wenn ich auf mein Leben schaue und auf mein Arbeiten als Exeget: Entscheidendes in meiner Biographie verdanke ich diesem faszinierend vielschichtigen Buch!

Josef Schultes
ist katholischer Theologe und Bibelwissenschaftler

Zweiter Jesaja

„Sucht den Herrn!“ Damit beginnen diese Verse. „Dirschú Adonaí“: nur zwei Worte im Hebräischen. „Sucht den Herrn!“ So heißt es schon beim Propheten Amos (Am 5,6), „dann werdet ihr leben“, setzt er aber scharf hinzu. „Sucht den Herrn und nicht den Profit. Beutet nicht Schwache aus, sondern sucht Gerechtigkeit!“ Mit ähnlicher Sozialkritik wie Amos tritt auch der Prophet Jesaja auf; etwa zur gleichen Zeit, also im 8. Jahrhundert vor Christus. Das nach ihm benannte Buch stammt zum größten Teil von ihm selbst oder seinen Schülern. In der Bibelwissenschaft wird er als Proto-Jesaja bezeichnet, als Erster Jesaja.

„Sucht den Herrn, er lässt sich finden!“ In der heutigen Lesung ist der Tonfall viel sanfter. Der Zuruf steht nämlich in einem total anderen Kontext. Erst zwei Jahrhunderte später richtet er sich an Menschen in der Krise des Exils zu Babylon. Gesprochen von einem Mann mit Profil, aber ohne Namen. Seine Botschaft wider die Resignation kommt an und bleibt im Gedächtnis. Sie wird später einmal in das umfangreiche Jesaja-Werk aufgenommen. Für diesen Zusatz aus viel jüngerer Zeit hat sich in der Fachwelt die Bezeichnung Deutero-Jesaja durchgesetzt, also Zweiter Jesaja.

Von Euphrat und Tigris bis zur Donau

„Sucht den Herrn, er lässt sich finden!“ Da kann die Brust weit werden und die Seele tief Atem schöpfen. “Ruft ihn an, denn er ist nahe!“ Die Impulse dieses Bibel-Abschnitts zählen zum kurzen Nachwort des Deutero-Jesaja. Es steht in enger Beziehung zum Vorwort (Jes 40,1-11), gleichfalls voll Zuversicht. „Tröstet, tröstet mein Volk“, so der Prophet im Namen Gottes, „redet Jerusalem zu Herzen“. Und unmittelbar darauf folgt noch größere Ermutigung: „Bahnt in der Wüste den Weg des Herrn, ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott“. In den Evangelien des Neuen Testaments werden diese Appelle später Johannes dem Täufer in den Mund gelegt. In der Wüste ein Weg, in der Steppe eine Straße: Deutero-Jesaja eröffnet damit neue Horizonte, drängt aber auch auf Veränderung.

Erfüllte Zeit
Sonntag, 24.9.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Wandel ist angesagt. Teschubá, Metánoia in den Sprachen der Bibel, hebräisch und griechisch: Umkehren, Umdenken, Neues wagen. „Meine Gedanken“, so Deutero-Jesaja im An-Spruch des Ewigen, „meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege“. Mit Nachdruck will er zur Rückwanderung in die einstige Heimat ermutigen. Denn nie waren die Tore offener, die Chance besser als jetzt. Ermöglicht durch ein Edikt des Kyros aus dem Jahr 538. Diesem toleranten Herrscher wird dafür auch der Titel eines „Messias“, eines „Christus“ verliehen. Ein König der Perser, ein Fremder als „Gesalbter des Herrn“ – einzigartig im ganzen Ersten Testament und nur bei Deutero-Jesaja im 45. Kapitel zu entdecken (Jes 45,1)!

„Sucht den Herrn, er lässt sich finden!“ Wort eines anonymen Propheten, mehr als zweieinhalb Jahrtausende ist es alt. Kraftvoll reicht es von Eufrat und Tigris über den Jordan bis zur Donau, an der ich wohne. Hier und heute spricht es mich an, durchströmt und belebt es mich: „Sucht den Herrn, er lässt sich finden!“