Bibelessay zu Exodus 22, 20 – 26

Das Volk Israel hält am Berg Sinai. Es ist quasi im Niemandsland. Nicht mehr in Ägypten, wo es versklavt war, noch ist es in Kanaan, also dem Land, das Gott verheißen hat und das zur Heimat werden soll.

In diesen Zwischenraum zwischen dem nicht mehr und dem noch nicht setzt die biblische Erzählung das Bundesbuch, eine Sammlung von Mahnungen und Rechtsvorschriften, die das Zusammenleben in dem verheißenen Land regeln soll.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin und Germanistin an der Universität Kassel

Schwäche des Fremden

Dann, wenn das Volk endlich zu Hause ist. Dabei geht es um mehr als um einzelne Vorschriften. Es soll ein Ethos ausgebildet werden, eine ethische Grundhaltung, die konkrete Vorschriften begründet und die in engem Kontext mit der Fluchterfahrung Israels steht. Dieses Ethos nimmt seinen Ausgang vom Umgang mit den Schwachen, die am Rand der Gesellschaft leben. Der Text nennt eine ganze Reihe davon. Die Witwen und Waisen, also diejenigen, die in einer patriarchalen Kultur ohne männlichen Beschützer und entsprechend angreifbar sind. Die Armen, die sogar ihren einzigen Mantel verpfänden müssen und damit das Lebensnotwendige gegen die Kälte der Nacht. Eingeleitet wird die Aufzählung durch den Fremden, der dadurch an eine hervorgehobene Stelle rückt.

Lebenskunst
Sonntag, 29.10.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Tatsächlich scheint die Schwäche des Fremden besonders. Eindrücklich hat sie im 20. Jahrhundert die jüdische Philosophin Hannah Arendt beschrieben. Sie selbst war aus Nazi-Deutschland nach Frankreich geflohen, dort noch einmal der Inhaftierung entkommen und in die USA gelangt. Dort veröffentlicht sie 1943 den Essay „We Refugees“, „Wir Flüchtlinge“, das heute angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise wieder vermehrt gelesen wird. In dem Essay macht sie ihre eigenen Erfahrungen und die von Freunden und Bekannten zum Thema. Sie waren den Nationalsozialisten entkommen und lebten in der Fremde – zunächst in Frankreich, und damit keineswegs in Sicherheit. Sie beschreibt die Weigerung, sich selbst als Flüchtling zu bezeichnen und die eigene Identität darüber zu bestimmen. Denn sie waren ja jemand gewesen. Sie hatten doch einen Beruf, eine Sprache, in der sie sich gewandt ausdrücken konnten, gesellschaftliches Ansehen. In der Fremde spielte das alles keine Rolle. Und noch schlimmer: Sie waren ohne Rechte, angewiesen auf das, was man ihnen zugestand. Denn der Nationalstaat definiert Rechte über nationale Zugehörigkeit. Das macht die Situation des Fremden, insbesondere des Staatenlosen, prekär.

Heimat ist eine Sehnsucht

Diese Erfahrung des Fremden, des Nicht-Definierbaren, betrifft angesichts weltweiter Migrationsbewegungen heute so viele Menschen wie nie zuvor. Das Judentum, so schreibt es Arendt 1943, könnte sich diesbezüglich als Avantgarde verstehen – weil die Erfahrung von Fremdheit seiner Geschichte tief eingeschrieben ist. Fremdheit ist, wie der Text des Bundesbuches deutlich macht, in der jüdischen Bibel verankert, und damit grundsätzlich auch im Christentum, das die jüdische Bibel als Altes Testament übernommen hat.

Bemerkenswerter Weise verankert die Bibel Fremdheit gerade dort, wo der Text das künftige Leben in Kanaan zu regeln sucht, also Heimat organisiert. Israel soll die Erfahrung der Fremdheit nicht hinter sich lassen, sondern sie bewahren, indem es sich erinnert. „Du sollst den Fremden nicht ausnützen oder ausbeuten, denn du selbst warst fremd in Ägypten.“ Heimat ist hier gerade nicht der Ort, an dem Fremde keinen Platz haben – es ist der Ort, wo den Fremden Raum gegeben werden kann, weil man weiß und sich erinnert, dass das Fremdsein zu einem selbst gehört. Am Berg Sinai, diesem eigentümlichen Zwischenraum, ist Heimat kein Besitz und wird es vielleicht nie sein. Es ist eine Sehnsucht.