Gemeinschaft

Was für eine unglaubliche Revolution in der Geschichte der Skulptur! Und was für eine berührende und zugleich nachdenklich stimmende künstlerische Arbeit. Das denke ich mir immer wieder aufs Neue, wenn ich mich mit Auguste Rodins legendärer Skulpturengruppe „Die Bürger von Calais“ befasse.

Gedanken für den Tag 21.11.2017 zum Nachhören:

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Diese bildhauerische Arbeit war in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts im Zuge des boomenden Denkmalkults in Auftrag gegeben worden, um an eine Begebenheit aus dem Hundertjährigen Krieg zu erinnern. Damals war die nordfranzösische Hafenstadt vom englischen Heer belagert. Um Calais zu befreien, hatten sich sechs heldenhafte Bürger bereit erklärt, als Geiseln der Engländer zu sterben. Natürlich hatte man erwartet, dass der Bildhauerstar den mutigen Anführer dieser Gruppe heroisch auf einem erhöhten Sockel darstellen würde. So wie es der Tradition entsprach. Aber was machte Rodin?! Er verabschiedete sich vom Pathos des traditionellen Heldendenkmals, indem er sich für eine Darstellung entschied, in der nicht der Einzelne im Zentrum steht sondern die Gruppe. Zugleich wählte er eine fast ebenerdige Aufstellung, so dass die Bronzeskulpturen den Betrachtenden nahezu gleichwertig gegenüberstehen.

Johanna Schwanberg
ist Leiterin des Dom Museum Wien

Perspektivenwechsel

Als ich vor Jahren das erste Mal live vor einem der zwölf Bronzeabgüsse dieser Skulpturengruppe stand, wusste ich nicht, wo ich mit dem Betrachten beginnen soll. Denn jede der sechs menschlichen Figuren im Büßergewand hat mich in ihrer Gestik und ihrer Ausdrucksstärke gefesselt. Jedem Einzelnen sind die Ängste und die Seelenqualen in Bezug auf den bevorstehenden Tod ins Gesicht geschrieben.

Fasziniert hat mich auch die Art und Weise, wie Rodin mich diese Skulpturengruppe erschließen lässt. Denn er fordert dazu auf, das Denkmal unzählige Male zu umrunden. Es gibt keine eindeutige Vorder- und Rückseite. Im Gegenteil: Von jeder Seite ergeben sich stets neue Blicke auf Details wie auch auf das gesamte skulpturale Geschehen. Eine Erfahrung, die sich tief in mich eingeschrieben hat. Denn ist es nicht oft auch im Alltag so, dass wir erst durch mehrmaliges Umkreisen und ständigen Perspektivenwechsel einen vielschichtigen Blick auf das bekommen, was uns gerade beschäftigt?

Musik:

Hank Astor Orchester: „Last Tango in Paris“ a.d.gln.Film „Der letzte Tango in Paris“ von Gato Barbieri
Label: BMG 290146200