Bibelessay zu Apokalypse 5, 1 - 14

Das Buch des Lebens liegt vor uns. Zu keinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte wussten wir mehr über uns selbst, über das Leben und die Welt als heute.

Unser Erbgut ist entschlüsselt. Jede und jeder kann im Internet eine DNA-Analyse bestellen und weiß dann Bescheid über seine Vorfahren oder genetischen Risikofaktoren. Wir wissen auch über die Ursachen des Klimawandels Bescheid. Unter den Klimaforschern herrscht große Einigkeit – auch darüber, dass es großer Anstrengungen bedarf, das Ruder herumzureißen, um der Klimakatastrophe zu entgehen. Dass die Ressourcen der Erde ungleich und ungerecht verteilt sind, ist ebenso offensichtlich.

Michael Chalupka
ist Direktor der Hilfsorganisation Diakonie

Jesus kann das Buch öffnen

Und doch herrscht Ratlosigkeit. Wie kann es weiter gehen? Was fangen wir mit unserem Wissen an? Was ist zu tun? Und es ist nicht nur das Gefühl, selbst nicht weiter zu wissen, von den vielen Informationen erschlagen zu werden, das einen ratlos macht. Es ist vielmehr das Gefühl, dass auch die Mächtigen, die Lenker der Welt, ratlos sind und zwar Zugang zum Wissen über die Welt haben, aber ratlos davor stehen und auch nicht wissen, wie es weitergehen soll. Diese Ratlosigkeit macht Angst und ist zum Weinen.

Im Buch der Offenbarung wird eine ähnliche Szene beschrieben. Der Himmel steht vor dem Buch mit den sieben Siegeln, das außen und innen beschrieben ist, und ein Engel ruft mit lauter Stimme: Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen? Und niemand konnte die Siegel lösen und das Buch lesen. Der Himmel ist ratlos. Das macht Angst und ist zum Weinen. Und da sagt einer der Ältesten: Weine nicht! Gesiegt hat der Spross aus der Wurzel Davids; er kann das Buch und seine sieben Siegel öffnen.

Die Leser und Zuhörer des Autors der Apokalypse wussten sofort, wer gemeint war. Kein Mächtiger, kein Gelehrter, kein Sieger der Weltgeschichte, eher ein Verlierer. Einzig Jesus, das Lamm Gottes, kann das Buch mit den sieben Siegeln öffnen und lesen.

Ein tiefer Zwiespalt

Wenn das Lamm das Buch öffnet, dann bringt es kein Geheimnis zum Vorschein. Denn was in dem Buch steht, liegt offen zutage. Auf den alten Schriften stand außen eine Zusammenfassung des Inhalts, der innen ausgeführt wird. Man weiß also, was in der Schrift steht. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass man es versteht. Für das Verstehen braucht es einen Schlüssel – eine bestimmte Perspektive. Und das ist die Perspektive des Lamms.

Lebenskunst
Sonntag, 3.12.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Denn: Das Lamm, das Opferlamm, erinnert daran, dass alles Leben auf Kosten anderen Lebens lebt. Das Bild vom Opferlamm schärft den Blick dafür, dass das Leben immer in Gefahr ist, auf Kosten anderer zu leben. Bis heute leben wir auf Kosten anderer. Anderer Lebewesen. Wir nehmen ihnen ihren Lebensraum. Viele Arten sterben aus. Wir beklagen das Insektensterben, als ob es einem unumkehrbaren Naturgesetz folgen würde. Viele Tiere ziehen wir nur auf, um sie zu essen. Doch das Grausamste ist: Wir leben auch auf Kosten anderer Menschen. Wir spüren und wissen aber auch, dass alles Leben verbunden ist.

Wir spüren eine tiefe Zerrissenheit: einerseits alles Leben als heilig zu erkennen, andererseits auf Kosten anderen Lebens zu leben. Wir sehen keinen Ausweg aus diesem Zwiespalt mit uns selbst.

Das Buch des Lebens ist geöffnet

„Das Lamm, das getötet wurde, hält uns diesen Zwiespalt mit uns selbst vor Augen. Aber es überwindet ihn“, wie der deutsche Theologe Gerd Theissen sagt. Das ist die Botschaft Jesu, die Botschaft des Lammes: „Es gibt ein Leben, das nicht auf Kosten anderen Lebens lebt, ein Leben, wo nicht der Schwächere für den Stärkeren geopfert wird. Ein Leben, in dem Menschen von sich etwas opfern – zugunsten derer, die schwächer sind.“

Das Buch des Lebens liegt offen vor uns. Gelesen, verstanden und weitergeschrieben kann es aber nur aus der Perspektive des Lammes, der Schwachen und der Opfer werden. Der Klimawandel und seine Folgen können nur aus der Perspektive der kleinen Inselstaaten, die vom Anstieg des Meeres überflutet zu werden drohen, so verstanden werden, dass ein radikales Umdenken einsetzt. Die Verteilung der Ressourcen dieser Erde muss aus der Perspektive der Hungernden gesehen werden, die ein Recht auf ihren Anteil haben. Und das Wissen über unser Genom soll Kranken helfen, aber nicht zur Fantasie des perfekten Menschen führen.

Das Buch des Lebens liegt offen vor uns. Gott ist in den Schwachen mächtig. Das ist die Botschaft des Advent, der heute beginnt und zum Kind in der Krippe führt.