Bibelessay zu 2 Petrus 3, 8 – 14

Nicht wenige Zeitgenossen haben das flaue Gefühl, dass in unserem Leben etwas nicht stimmt. Es ist hastig geworden. Ratschläge zur Entschleunigung werden gegeben.

Das Buch „Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny war vor Jahren ein Bestseller. Wer das vorgegebene Tempo mithalten will, überfordert sich leicht. Burnout ist zu einer der teuersten Volkskrankheiten geworden. Warum aber diese Hast und Schnelligkeit im Leben so vieler Menschen?

Paul M. Zulehner
ist katholischer Theologe und Religionssoziologe

Sehnsucht nach dem Paradies

Der französische Historiker Philippe Aries vermerkt einmal pointiert: „Wir, die Heutigen, leben im Vergleich zu den früheren Generationen zwar länger, aber insgesamt kürzer. Denn früher lebten die Leute dreißig plus ewig und wir nur noch neunzig.“ Dabei tragen wir alle eine maßlose Sehnsucht in uns, die nicht in Raum und Zeit passt. Wir haben Sehnsucht nach dem Ganzsein, dem großen Glück, dem Paradies. Wir erleben dieses auch in wenigen „Momenten“: In guter Arbeit. Im Erkennen. Im Spiel. In der Liebe.

Wir stecken also in einem bedrängenden Dilemma: Wir sind aus dem Paradies vertrieben und tragen die Sehnsucht nach diesem in uns. Meine Großmutter hat sich damit nicht schwergetan. Sie war als fromme Frau erzogen worden. Da lernte sie, ihre maßlose Sehnsucht nach dem Paradies in einen ausstehenden Himmel auszulagern. Das große Glück erhoffte sie sich einst im Himmel. Sie hat verstanden, was im Petrusbrief zu hören war: „Dann erwarten wir, seiner Verheißung gemäß, einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt.“ (2 Petr 3,13). Das hat meiner Oma gutgetan. Denn sie musste jetzt nicht das Paradies auf Erden erzwingen, nicht in ihrer Arbeit, nicht in ihrer Liebe. Sie konnte mit Spuren des Glücks zufrieden sein. Das bewirkte zudem, dass die Menschen, mit denen sie lebte, nicht die Rivalen ihrer Jagd nach dem himmlischen Glück auf Erden waren. Sie lebte nicht in der ständigen Angst, zu kurz zu kommen. Das machte sie frei, großzügig, ihr Leben mit anderen zu teilen. Möglich war ihr das alles, weil sie unter einem offenen Himmel lebte.

Eine neue Erde

Viele Zeitgenossen leben dagegen unter einem verschlossenen Himmel. Sie leben erwartungslos, kommen ohne Verheißung aus. Karl Marx war der Meinung, dass die Religion wie Opium die Menschen auf das Jenseits vertröste und daher vom Kampf um Gerechtigkeit in dieser Welt abhalte. In diesem Satz steckt viel Wahrheit. Christen haben im Kampf um eine gerechtere Gesellschaft nicht immer in der ersten Reihe gestanden. Unerleuchtete Prediger haben die Armen auf das Jenseits vertröstet.

Lebenskunst
Sonntag, 10.12.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Das ist heute gottlob längst nicht mehr der Fall. Papst Franziskus kämpft mit vielen Christinnen in der ersten Reihe um mehr Gerechtigkeit, für die Menschen wie für die Mitwelt. Er betrachtet dies als seine Mitarbeit an einer neuen Erde. Schon jetzt. Und das macht er, weil er der Ansicht ist, dass der neue Himmel und die neue Erde schon jetzt mitten in dieser alten Welt anfangen. Sie beginnen immer dann in Spuren, wenn jetzt schon Gerechtigkeit Raum greift. Papst Franziskus kämpft um Gerechtigkeit auf Erden unter einem offenen Himmel, in einem Lebensentwurf also, der nicht mit dem Tod endet.

Plädoyer für einen offenen Himmel

So sehr aber Karl Marx mit seinem Vorwurf der Vertröstung der Armen auf das Jenseits nicht ganz falsch liegt: Tragisch ist, dass sich sein Vorwurf inzwischen umgekehrt hat. Heute gibt es eine fast religiös anmutende Vertröstung der Reichen auf das Diesseits. Eben aus dieser erwachsen die oben beschriebenen Folgen: dass solche Menschen hastig leben, sich ständig überfordern, in der Angst leben, zu kurz zu kommen. All das macht sie unsolidarisch.

Der große Journalist und Marxkenner Günther Nenning schrieb ein Buch mit dem Titel: „Mehr Opium mein Herr!“. Seine Schrift ist ein Plädoyer für einen offenen Himmel. Wäre es nicht ein Glück, gingen Zeitgenossen in die Lebensschule meiner Großmutter? Oder des zweiten Petrusbriefes? Leben lernen aus der Verheißung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde? Könnte ihr Leben dadurch nicht wieder stimmiger, weil freier und solidarischer, werden?