Lulu

Frank Wedekinds Lulu ist eine der interessantesten und besonders vielschichtigen Frauenfiguren des Theaters, die bis heute für Kontroversen sorgt. Es ist so leicht, sie als selbstbestimmte Frau zu glorifizieren, nur weil sie beim Sex ebenso egoistisch ist wie die Männer und sich holt, was sie will.

Gedanken für den Tag 8.3.2018 zum Nachhören:

Dieses Element ist nicht mehr verfügbar

In der Eröffnungsszene ist sie mit Medizinalrat Dr. Goll verheiratet, der sie beim Kunstmaler Schwarz porträtieren lässt. Dort ist auch ihr Liebhaber, der Chefredakteur Dr. Schön, mit seinem Sohn Alwa. Kaum gehen die Männer zu einer Ballettprobe, lässt sich Lulu mit Schwarz ein. Als Goll die beiden überrascht, erliegt er einem Herzinfarkt. Lulu heiratet Schwarz, will aber Schön als Geliebten nicht aufgeben. Als Schwarz davon erfährt, schneidet er sich die Kehle durch.

Objekt von Männerfantasien

Über herkömmliche Moralbegriffe setzt sich Lulu, wie Wedekind es formuliert hat, mit „Selbstverständlichkeit, Ursprünglichkeit und Kindlichkeit“ hinweg. Am einfachsten ist es, sie dafür zu verurteilen. Und genauso leicht ist es Lulu dafür zu bemitleiden, dass sie am Schluss in Armut und Elend in London lebt und nur noch als Straßenhure ihr Geld verdienen kann, bis sie von Jack the Ripper getötet wird. Aber Lulu taugt nicht zur simplen Opfer-Figur, denn immerhin hat sie ein Vermögen verprasst, und die Männer haben unter ihr genug zu leiden.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Aber sie ist auch keineswegs die souveräne Frau, die die Fäden zieht. Sie hatte ja nie die Chance, autonom zu werden – nicht nur materiell und in ihren äußeren Lebensumständen, sondern vor allem emotional. Chefredakteur Schön hat sie als ganz junges Mädchen von der Straße aufgelesen und zu seiner Geliebten gemacht; und sie dann, als er sich standesgemäß verheiraten wollte, an Medizinalrat Goll weitergereicht, für den sie tanzen musste, wie es ihm beliebte. Schon die allererste Szene im Maler-Atelier zeigt Lulu als Objekt der Begierde der Männer. Sie weiß zwar diese Begierde gut zu steuern und auszunutzen, aber sie kann keine Gefühle entwickeln, weil ihr selbst nie welche entgegengebracht wurden. Und der Maler Schwarz vergöttert sie zwar als sein Ein und Alles, aber er versteht sie nicht.

Die Rollen von Mann und Frau haben sich in den letzten 100 Jahren entscheidend verändert – doch Wedekinds Lulu ist heute, am Internationalen Frauentag, noch immer eine produktive Leitfigur um zu entlarven, wie Frauen zum Objekt und Produkt von Männerfantasien gemacht werden.

Buchhinweise:

  • Frank Wedekind, „Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie“, Reclam Verlag 2013
  • Frank Wedekind, „Lulu. Erdgeist. Die Büchse der Pandora“, Reclam Verlag 1999
  • Frank Wedekind, „Der Marquise von Keith. Schauspiel in fünf Aufzügen“, Wallstein Verlag 2018

Musik:

Maurizio Pollini/Klavier: „Etüde op. 10 Nr. 9 in f-moll für Klavier - Allegro, molto agitato“ von Frederic Chopin
Label: DG 4137942