Paradise Unwanted

Eigentlich wollte ich heute das Problem der Dialektik bei Karl Marx und Hegel verhandeln, von Knecht und Herr sozusagen. Aber das würde Stunden dauern und die vom ORF geben mir nur zwei Minuten. Weil ich das Thema also so nicht beleuchten kann, dachte ich, ich könnte es „unterbeleuchten“ und ihm einen vagen Schattenriss geben.

Gedanken für den Tag 5.5.2018 zum Nachhören:

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Vereinfacht gesagt ist jeder Mensch dialektisch angelegt. Manchmal ist er traurig, zornig, niedergeschlagen, dann wieder bester Laune und euphorisch. Die Synthese dieser beiden ist Gleichmut, der Idealzustand der Gefühlsmitte, letztlich jene Mitte, die die Denkschulen der Alten Griechen angestrebt haben.

Oliver Tanzer
ist Autor und Leiter des Wirtschaftsressorts der Wochenzeitung „Die Furche“

Dialektik der Mitte

Karl Marx war oft auf der dunklen Seite des Gefühlslebens zu finden. Er war etwa ein Chef, der Mitarbeiter mit dem Satz begrüßte: „Ich werde Sie vernichten“. Und er bedauerte ja nicht nur den Zustand der Welt sondern auch seinen eigenen. Denn der gute Mann hatte nie Geld und wenn er welches hatte, warf er es sofort zum Fenster hinaus. Den wechselvollen Charakter, den er dem Geld zuschrieb, dieses extreme Elend bei Geld-Abwesenheit und die vollkommene Manie bei Geld-Anwesenheit, hat er vielleicht selbst am ehesten verspürt.

Immer wieder startete er den Versuch, sich und seiner Familie eine gutbürgerliche, bourgeoise Existenz zu sichern. Er richtete seinen Töchtern Bälle aus, er trug Maßanzüge und setzte auf den Stil jenes Bürgertums, das er in seinen Schriften verachtete.

Wir Weltverbesserer sind übrigens nicht unähnlich. Wir schimpfen das System, aber wir verkaufen auf den bösen Märkten gerne unsere kritischen Bücher. Und wer von uns kann sich uns in einer Welt der absoluten Gleichheit vorstellen? Karl Marx scheint selbst seine Zweifel gehabt zu haben. Von einer Gastgeberin während einer mondänen Soiree gefragt, wie er sich denn selbst sehe in seiner künftigen Kommunistenwelt, sagte er: „Die Zeiten werden kommen. Aber wir sind dann hoffentlich schon fort“. So müssen wir uns das Paradies vorstellen: Es ist so perfekt mittig und frei von Illusion, dass niemand hinein kann und will. Und aus diesem Schattenriss erhebt sich letztlich die Frage: Ist der Mensch zur wirklich menschlichen Dialektik der Mitte fähig? Und die Antwort ist: im Denken ja, im Leben leider nein. Lesen Sie Marx, wenn Sie‘s nicht glauben.

Buchhinweis:

Oliver Tanzer, „Lilith und die Dämonen des Kapitals“, Verlag Hanser

Musik:

Syd Lawrence Orchestra: „I’m getting sentimental over you“ von George Bassman
Label: Philips 8143562