Bibelessay zu Ezechiel 37, 1 – 14

Der Prophet Ezechiel war ein Poet, ein Dichter – und ein mutiger Mensch. Seine Zeit war schrecklich. Die Babylonier hatten im Jahr 597 v. C. Juda politisch liquidiert und dem Babylonischen Reich angeschlossen.

Der König in Jerusalem war Vasall, ein Teil der religiösen Elite wurde nach Babylon deportiert, unter ihnen Ezechiel. Zehn Jahre später kamen die Babylonier noch einmal, zerstörten Jerusalem vollständig, brachten Zentausende um und deportierten den Rest der Elite.

Wolfgang Treitler
ist katholischer Theologe und Judaist

Das wiedererstandene Israel

Und in diesen Untergangszeiten schreibt Ezechiel von der kommenden Wiedererstehung Israels. Er hämmert es mit mächtigen Worten seinen verlorenen Zeitgenossen ein: Ihr habt eine Zukunft, ihr werdet zurückkehren; was man von euch zerstreut hat, wird gesammelt, was ausgelöscht worden ist, wird wieder lebendig werden. Grandiose Bilder eines grandiosen Dichters.

Diesen Text lese ich heute, nachdem ich vor kurzem in Israel war, ich als Österreicher. 70 Jahre Israel als selbstständiger Staat wurde im April gefeiert, ein Freudenfest. Etwas mehr als zwei Wochen später kam ich nach Israel. Israel ist erstanden und lebt, ist kräftig und vielschichtig, vielfältig, da und dort auch zerklüftet, gesellschaftlich, religiös, auch topografisch. In Jerusalem merkt man das besonders. Die Stadt liegt auf Hügeln, immer bergauf, bergab, kaum ein Meter eben. Man findet streng Religiöse und Säkulare nebeneinander.

Zerstörung statt Aufbau

Und was mich bei meinem diesmaligen Besuch besonders faszinierte: In dieser 3000 Jahre alten heiligen Stadt wurde am 4. Mai der Prolog des Giro d’Italia ausgetragen, das weltweit zweitwichtigste Etappenrennen der Radprofis. Am Gehsteig gingen orthodox gekleidete Männer in schwarzen Mänteln, zehn Meter daneben fuhren einzeln die Radrennfahrer mit hautengen, farbkräftigen und werbeüberzogenen Zeitfahranzügen durch die gesperrten Straßen, und überall viele Fans, die sich dem Spektakel hingaben. Da spürte ich den Puls dieser Stadt, die die ganze Welt beherbergen kann.

Lebenskunst
Montag, 21.5.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Und dann kam ich zurück und wusste genau, was Ezechiel mir sagt. Ich kam zurück in ein Land, in dem mich sofort enge politische Parolen empfingen, die von Ezechiels Dichterkraft und Visionen überhaupt nichts an sich haben. Ich höre die politische Sprache wieder, die aufhetzt und zerstört. Ich fühle die Sprache des Judenhasses, die gezielt gestreut wird. Die Methode dieser politischen Sprache ist eindeutig: Grenzverletzungen werden gesetzt, damit durch sie Grenzen des Erträglichen verschoben werden. Ezechiel dichtete, weil ihn Träume und Visionen anfeuerten und begeisterten; diese Leute führen Parolen im Mund, die nichts mit Aufbau, sondern mit Zerstörung zu tun haben und sie wollen. Wo Ezechiel dichtete, bedienen sich diese Leute gestanzter Phrasen der Menschenverachtung. 80 Jahre nach den Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich hört man hier eine Sprache, die wie damals klingt, die prosaisch, eng, abgrenzend und voller Hass ist.

Ein Weckruf

Ezechiels Vision, am Anfang des Untergangs geschrieben, ist mehr als ein Weckruf heute. Sie ist ein flammendes Wort, das Licht geben will in diesen Tagen, die durch schreckenerregende Rhetorik verfinstert werden. Licht und gesteigerte Aufmerksamkeit für die Brutalität, die hier längst schon wirkt und sich ausbaut.

Schweigen geht nicht mehr. Wenn man Ezechiel hört, dann wird man erinnert an die eigene Verantwortung politischen Widerstands in diesen Zeiten, wo und wie immer man ihn leisten kann. Ezechiel sah eine zusammengewachsene, offene Gemeinschaft vor sich – und genau diese will ich auch hier im Land, wo wie in Jerusalem heute streng religiöse Haltungen und sportliche Festivals zumindest nebeneinander bestehen können.

Was Ezechiel geschrieben hat, lässt sich, jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt, nicht in religiösen Kreisen einsperren. Es hat politische Bedeutung. Deshalb wünsche ich mir als Vermächtnis des diesjährigen Osterfestkreises, der mit Pfingsten endet, das Feuer dieses prophetischen Geistes für die kommende Zeit.