Bibelessay zu Jeremia 23, 16 - 29

Hinterher ist man immer schlauer. Jeremia hat Recht behalten. Er hat sich durchgesetzt im Wettstreit der Propheten. Deshalb kennen wir auch noch ganz genau, was er gesagt hat und was seine Widersacher gesagt haben, die falschen Propheten, auf die man nicht hören soll. Von ihnen erfährt man allerdings nichts in erster Person, man kennt sie nur aus der Sicht Jeremias, des Siegers.

Stelle ich mir seine Gegner vor, die falschen Propheten, vor denen er warnt, so sind sie mir, ich muss es gestehen, sympathischer als der grimmige Verkünder des Niedergangs Jeremia. Sie sagen: „Der Herr hat es versprochen, es wird euch wohlergehen!“ „Kein Unheil wird über Euch kommen!“ Sie spenden Trost in schwierigen Zeiten. Das Land Juda ist von den Babyloniern besetzt, Jerusalem ist ein kleiner Vasallenstaat. Jeremia erkennt, dass jeder Aufstandsversuch in den sicheren Untergang führt. Die Propheten Judas beschwören die Nation, die Tradition und berufen sich auf Gott, der schon einmal geholfen hat und Juda wieder zur Seite stehen wird.

Michael Chalupka
ist evangelischer Pfarrer und Direktor der Diakonie Österreich

Mut, die Gegenwart zu sehen

Die Geschichte zeigt: Jeremia der Warner hat die politische Situation richtig analysiert. Die Propheten, die das Volk vertrösteten und in Sicherheit wiegten, waren auf der falschen Fährte.

Im gerade gehörten Bibeltext geht es um die Unterscheidung der Geister. Dabei allein auf das Urteil der Geschichte zu warten, ist unbefriedigend. Aus den Worten Jeremias lassen sich Kriterien gewinnen, die auch heute noch weiterhelfen können die richtigen von den falschen Propheten unterscheiden zu können.

Die erste Regel könnte lauten: Unangenehmere Botschaften sind ernster zu nehmen als leichter Trost, und komplexere Antworten haben eine größere Wahrscheinlichkeit, richtig zu liegen, als die ganz simplen. Ein weiteres Kriterium der Unterscheidung der Geister ist die Quelle, aus der die Prophetie strömt. Sind es bei den einen die Träume, so ist es bei den anderen die harte Wirklichkeit. Das unterscheidet die Vorhersager, die Zukunftsdeuter, die aus ihren Träumen, den Karten oder den Sternen die Zukunft lesen, von den wahren Propheten, die eher „Offen-Heraussager“ als Vorhersager sind. Die Propheten der Bibel verstehen sich so, wie die Schriftstellerin Christa Wolf über Kassandra schreibt: „Sie sieht die Zukunft, weil sie den Mut hat, die wirklichen Verhältnisse der Gegenwart zu sehen.“

Heutige prophetische Momente

Zwei Kriterien, an denen falsche Propheten erkannt werden können und die erstaunlich modern klingen, finden sich noch im Text: Sie laufen und rennen, sie entfalten eine hektische Betriebsamkeit und erzählen einander ständig ihre Träume und Zukunftsprognosen. Falsche Propheten leben in einer Blase. Sie reden ständig mit- und übereinander, lange bevor Twitter oder Facebook erfunden wurden.

Lebenskunst
Sonntag, 3.6.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Jeremia ist anders. Er spricht das Unangenehme an. Aber an einer Stelle sagt er einem seiner Gegner: Ich wäre froh, wenn es so käme, wie du es sagst. Ich wäre froh, würde ich mich irren. Auch ich hätte die Welt gern himmelblau und rosarot und auf jede Frage eine schnelle Antwort. Fasst man die Kriterien für falsche Prophetie kurz zusammen, kann man sagen: „Die Stimme, die man nicht hören mag, die man unterdrücken, zum Schweigen bringen will, sollte unter den positiven Verdacht gestellt werden, die Wahrheit zu sagen.“ Doch es gilt auch: „Nicht jeder, den man lieber nicht hören will, sagt deshalb schon die Wahrheit, und nicht jeder, der sagt, was man gerne hört, lügt schon.“

Auch heute gibt es prophetische Momente. Als bei der Klimakonferenz mit Arnold Schwarzenegger eine junge Frau das Mikrofon von Bundeskanzler Kurz kaperte, vor den drastischen Folgen der Klimaerwärmung warnte und der Bundesregierung den Spiegel ihrer – wie sie meinte - ambitionslosen Klimapolitik vorhielt, war das für den Bundeskanzler sicher kein angenehmer Augenblick. Die Klimaaktivistin gehört auch keiner der üblichen bekannten prophetischen Blasen der Republik an, sie kommentiert in keinem Medium, gehört zu keiner Partei. Sie versteht sich als Teil einer echten Bürgerbewegung, die zu einem radikalen Wandel in der Klimapolitik aufruft. Sie ist keine Träumerin, sondern hat den Mut, die wirklichen Verhältnisse der Gegenwart zu sehen. Auch sie würde sich freuen, wenn ihre Prophezeiungen nicht Wirklichkeit werden würden. Was kommt, wird die Zukunft zeigen. Kommt es nicht so schlimm, dann hat sie dazu beigetragen. Jeremia hätte seine Freude an ihr gehabt.