Bibelessay zu Markus 6,1b – 6

„Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie.“ – Habe ich mir das auch schon mal gedacht? Überall kann ich mich verständlich machen, bei den anderen, im Berufsleben, draußen und drüben, dort und dort. Ausgerechnet „zu Hause“, unter den „Meinigen“, in der Familie werde ich missverstanden?

Mir fällt ein Bekannter ein, der sich aus christlicher Überzeugung für Flüchtlinge in Österreich eingesetzt hat. Christliche Grundwerte – die richten sich immer auf den anderen – Nächstenliebe – gerade gegenüber dem anderen, dem Fremden. Das steht eindeutig so im Evangelium und Jesus hat es so gehandhabt.

Severin Renoldner
ist römisch-katholischer Theologe und Philosoph

Mensch sein

Aber gerade „zu Hause“, in seiner eigenen Kirche, begegnen ihm Leute, die ihm Vorhaltungen machen: Diese Fremden haben mit unserem Heimatland nichts zu schaffen. Genügt es, wenn er sagt: Aber sie haben Schreckliches mitgemacht. Sie können nicht zurück. Sie benötigen unsere Hilfe?

Muss man Christ sein, um so etwas zu sagen, zu denken? Muss man Theologie studieren? Ganz eindeutig nicht, es genügt einfach, Mensch zu sein und ein mitmenschliches Empfinden über den eigenen Tellerrand hinaus zum Mitmenschen zu haben.

Jesus hat es ebenfalls so praktiziert. Das Evangelium dieses Sonntags schildert, wie es Jesus gerade so ergangen ist, und zwar zu Hause in Nazareth: „Ist das nicht der Tischlerssohn?“ – meckern die Leute. Kann man von einem ganz normalen Menschen, der unter uns aufgewachsen ist, erwarten, dass er Krankheit und Leid beseitigt, dass er mitmenschlich ist, ja dass er, wie es von Jesus heißt, die heiligen Schriften auslegt und ganz simpel sagt: In den Schriften stehe drin, dass man genau das tun soll?

„Gutmenschen“ und „Schlechtmenschen“

Man kann ihn zumindest einmal lächerlich machen. „Die Gutmenschen, das wissen wir doch schon…“. Ich frage mich, ob es jenen, die über „Gutmenschen“ die Nase rümpfen, bewusst ist, dass sie sich damit selbst zu „Schlechtmenschen“ erklären. Wer über „Gutmenschen“ spottet, handelt wie die Nachbarn Jesu aus Nazareth. Sie zweifeln das Gute an und wollen lieber das Schlechte bei sich haben.

Lebenskunst
Sonntag, 8.7.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Dabei leben wir alle davon, dass uns von Kindheit an Gutmenschen begegnet sind, eine Mutter, ein Vater, Großeltern, Freunde, die uns gern hatten, Menschen die uns wohlgesonnen waren. Nicht einmal die eigenen Eltern kennen uns, bevor wir geboren werden. Am Anfang sind wir alle Fremde. Und die ganze Gesellschaft, jeder Einzelne, lebt davon, dass er als Fremder willkommen geheißen und geliebt wird.

Da ist es schon seltsam, wenn man ausgerechnet „zu Hause“ ausgelacht wird. Die „Eigenen“, können auch manchmal die Fremden sein. Und Nächstenliebe, sagt Jesus, bedeutet, auch die „Fremden“ zu lieben: Ich muss ihnen ein Nächster werden. Nur so kann überall Heimat entstehen.