Wo waren sie am Abend des 9. November 1989?

Menschen meiner Generation können diese Frage meist sehr präzise beantworten, auf alle Fälle fast immer mit den Worten: „Vor dem Fernseher“. Berührt beobachteten Millionen von Menschen den Fall der Berliner Mauer, des Symbols der Teilung Deutschlands und Europas.

Zwischenruf 15.7.2018 zum Nachhören:

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Meine Mutter, aus der Nähe von Frankfurt an der Oder – damit aus der DDR stammend und damals 72 Jahre alt, saß die ganze Nacht weinend vor dem Fernsehgerät. Und heute? Fast 30 Jahre und einen Friedensnobelpreis für die EU später? Das Hochziehen von Mauern und das Spannen von Stacheldrähten scheinen wieder salonfähig geworden zu sein. Man spricht von der „Festung Europa“ und der „Achse der Willigen zwischen Berlin-Rom und Wien“. Solche Begriffe kennen die, die Geschichte gelernt haben, doch von vor über 70 Jahren.

Dr. Gisela Malekpour
ist Superintendentialkuratorin der evangelisch-lutherischen Diözese Niederösterreich

So war den Geschichtsbewussten auch klar, dass die Kürzung von Geldern für die Entwicklungszusammenarbeit, das Aussetzen der finanziellen Unterstützung der Flüchtlingslager in Jordanien und im Libanon, die Ignoranz gegenüber dem Klimawandel nur eines bewirken kann - vermehrte Flüchtlingsströme.

Das „christliche Abendland“

Zunächst völlig unvorbereitet, reagierte Europa im Jahr 2015 so, wie man es sich aufgrund der vielzitierten christlichen Werte erwarten durfte: mit Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft, Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Jetzt, drei Jahre später, scheinen die Prioritäten der Entscheidungsträgerinnen anders zu liegen. Der Fokus liegt nicht mehr auf Hilfe zur Integration, sondern auf Abschiebung auch in jene Länder, für die für Österreicherinnen und Österreicher aufgrund der dortigen Gefahrenlage eine Reisewarnung besteht. Auf Zurücknahme von Integrationsmaßnahmen, wie zum Beispiel Deutschkursen. Auf Auslagerung der Probleme in Staaten, die selbst zu den 3.Welt-Ländern und somit den ärmsten unserer Erde gehören.

Zwischenruf
Sonntag, 15.7.2018, 6.55 Uhr, Ö1

Wie glaubwürdig erscheint da die Verteidigung des sogenannten christlichen Abendlandes überhaupt noch? Das Vor-sich-Hertragen von Kreuzen bei Wahlveranstaltungen reicht jedenfalls nicht aus. Zunächst wären zu den historischen auch geografische Kenntnisse von Nöten. Das „christliche Abendland“ hat seinen Ursprung in Kleinasien, dem vorderen Orient, der früher als Morgenland bezeichnet wurde, und somit der Region, aus der heute ein Großteil der Flüchtlinge kommt.

„Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“, heißt es im 30. Vers des 18. Psalms der Bibel. Bleibt nur zu hoffen, dass möglichst viele in Zukunft zumindest die Mauern in ihren Köpfen zu überspringen wagen. Und dass die jetzt beginnende EU- Ratspräsidentschaft Österreichs nicht als diejenige in die Geschichte eingeht, die als oberste Maxime die Abschottung Europas hervorgebracht hat.