Bibelessay zu Jer 23, 1-6

„Jung war ich, nun bin ich alt, nie sah ich einen Gerechten verlassen noch seine Nachkommen betteln um Brot.“ Ein Text wie dieser Psalmvers aus dem Psalm 37 zeichnet ein schönes, hoffnungsfrohes Bild eines alternden Menschen. Sein Vertrauen auf die Gerechtigkeit wurde nicht zerstört, sein Zutrauen auf das tägliche Brot nicht enttäuscht.

Häufig geht es anders her, auch bei mir. Der Unwille steigt mit den Lebensjahren, das, was man so erlebt und mitmacht, gleichsam abzusegnen. Ist es, weil man mit der Zeit nicht mehr mithalten möchte oder nicht mehr mithalten kann? Bilder einer guten, alten Zeit tauchen in solchen mieselsüchtigen Menschen auf, auch wenn sie irgendwie doch ahnen, dass es sie so nie gab. Diesen Bildern hält keine Gegenwart stand.

Wolfgang Treitler
ist katholischer Theologe
und Judaist

Gerechtigkeit für alle?

Verglichen damit sind alte Propheten anders gestellt, selbst wenn sie manchmal scharf wie alte Menschen angreifen, was sie gegenwärtig erleben müssen. Propheten messen ihre Gegenwart nicht an einer Verklärung alter Zeiten; sie messen sie an uralten Grundsätzen menschlichen Zusammenlebens, die unter dem Stichwort „Gerechtigkeit“ zusammengefasst sind. Und deshalb erkennen sie wie Jeremia, der im 7./6. Jahrhundert vor Christus gewirkt haben dürfte, was heute auch gut erkennbar ist: Irreführung ist ein großes Geschäft und mehrheitsfähig. Anstelle von Gerechtigkeit für alle geht es um Gruppenvorteile, um Parteiungen, um Kraftspiele und Kampfspiele, in denen andere zuschanden gemacht werden können und man sich an deren Niederlagen noch freut. Wohin man auch schaut und wohin man auch hört – häufig dringen hohle Phrasen ins Ohr, nicht selten Heuchelei, Degradierung von Mitmenschen, blanke Lügen und tödliche Parolen von Ideologen, die sich in ihren Allmachtsphantasien verloren haben und organisiert bejubeln lassen.

Lebenskunst
Sonntag, 22.7.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Fast alle der Gewohnheiten, die sich in den hochökonomisierten Gesellschaften entwickelt haben, zeigen einen Grundzug: Sie werden nach wie vor propagiert von Meinungsführern, die, wie Jeremia direkt sagt, „die Schafe meiner Weide zugrunde richten.“ Eine bittere Diagnose. Jeremia sah damals genau, was heute auch zu sehen ist: Man fährt mit rasender Geschwindigkeit auf eine umfassende Katastrophe zu. Doch von Gerechtigkeit für alle wird nicht gesprochen, Gerechtigkeit für alle wird nicht geübt: Stattdessen tut man so, als könnte man sich auf eine isolierte Insel von Seligen retten. Doch diese Insel gab es nie und gibt es auch heute nicht.

Gerechtigkeit Gottes

Wer von den Katastrophen spricht, die sich gegenwärtig schon vollziehen, und mit diesem Wahnsinn nicht mehr mitmachen will, gehört nicht zu den bissigen Alten, die aus ihrer Zeit gefallen sind, sondern ist berührt von prophetischer Unruhe – und von einer Frage, die von Jeremia her in die Gegenwart drängt, und diese Frage ist eine Überlebensfrage:
Wo ist der Mensch, der in seinem Namen die Gerechtigkeit Gottes für alle benennen und darstellen wird – wie Zidkijah, der König, an den Jeremia gedacht hatte? Zidkijah bedeutet ja: Meine Gerechtigkeit ist Gott. Das heißt: Das Maß meiner Gerechtigkeit ist Gott.

Wo ist der Mensch heute, der das darstellt, der das bezeugt und Menschen auf einen anderen Weg als den der Verführung mitnimmt?
Wo ist der Zidkijah von heute?