Bibelessay zu Jesaja 62, 6 – 12

Arbeiten zu müssen, ohne von den Erträgen dieser Arbeit dann auch etwas zu haben, ist frustrierend. Genau das ist die Situation, die der Prophet in seiner Rede anspricht. Die Israeliten, das gemäß biblischem Bericht von Gott erwählte Volk, sind seit Jahrzehnten fremdbestimmt, politisch wie ökonomisch.

Ein maßgeblicher Teil der Bevölkerung ist deportiert worden, in die sprichwörtlich gewordene „babylonische Gefangenschaft.“ Die, die im Land bleiben duften, sind der Besatzungsmacht gegenüber tributpflichtig. Was durch eigenen Fleiß erwirtschaftet wurde, ist abzuliefern. Nicht sehr motivierend.

Johannes Wittich
ist Oberkirchenrat der evangelisch-reformierten Kirche in Österreich

Geschenk Gottes

Das ist allerdings auch nur ein Aspekt der im Ganzen unbefriedigenden Situation. Für den Propheten ist es klar: Das Land ist ein Geschenk Gottes an sein Volk. Dieses, und auch nur dieses, soll durch seine Erträge versorgt werden. So hat es Gott versprochen. Nur: Im Augenblick ist davon nichts zu merken.

Kristallisationspunkt der Beziehung zwischen Gott und seinen Menschen ist der Tempel, das Heiligtum in Jerusalem. Stellvertretend für das entrechtete Volk hat diese Stadt, so hört man zwischen den Zeilen heraus, von anderen Völkern eine Reihe von Spottnamen verpasst bekommen. Sie gibt ja auch wirklich nichts mehr her, diese Stadt, die einmal die Einzigartigkeit der Gottesbeziehung repräsentiert hat.

Dialog mit Gott

Während in anderen Teilen der biblischen prophetischen Tradition diese Schmach kompromisslos mit dem Fehlverhalten des Volkes begründet wird, Gott also allen Grund hat, seine Unterstützung zu verweigern, werden hier andere Töne angeschlagen. Es geht um das Unglück des Ist-Zustands – und darum, dass Gott eigentlich kein Gott ist, der so etwas zulassen dürfte.

Lebenskunst
Sonntag, 5.8.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Darum sind, so heißt es, in Jerusalem „Wächter“ aufgestellt. Einfache Menschen wie du und ich, deren Aufgabe es ist, Gott an sein Versprechen zu erinnern, Gott zu sagen: Du bist doch nicht so! Du willst doch, dass es uns gut geht!

Eine gewagte Vorstellung von Gott, finde ich: Ein Gott, den man daran erinnern muss, wer er eigentlich ist. Gleichzeitig aber auch faszinierend: Ein Gott, der bereit ist, in einen Dialog mit seinen Menschen einzutreten und ihnen ernsthaft zuhört. So ernsthaft, dass er dadurch auch beeinflussbar wird.

Appell des Propheten

Was für mich auch bedeutet, dass dieser Gott sich nicht festlegen lässt. Sich keiner Definition unterwirft. Menschen können in eine dynamische Beziehung mit ihm eintreten. Und daher, so wie die Wächter auf den Mauern Jerusalems, mit Veränderung zum Guten ganz konkret rechnen. Ein „dialogfähiger“ Gott macht Hoffnung, motiviert, Hoffnung konkret zu formulieren. Und aus Hoffnung Handlungen entstehen zu lassen.

Das ist dann auch der Appell des Propheten an seine Mitmenschen: Macht etwas, bereitet die Veränderung vor, konkret die Heimkehr der Exilierten, die Wiederherstellung der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Volkes. Bereitet die Veränderung vor, auch wenn es nach menschlichem Ermessen noch keine Anzeichen dafür gibt, dass diese auch kommen wird. Riskiert es – im Vertrauen darauf, dass Gott sich an seine Versprechen erinnern lässt, und diese dann auch einhält.