Bibelessay zu Lukas 1, 39 – 56

Ich kenne Menschen, die die liturgisch stilleren Sonntage und Feiertage in den Sommerferien besonders lieben. Anders als „heilige Zeiten“ wie der Advent, Weihnachten, Fastenzeit, Osterzeit, sind jetzt eher etwas weniger Menschen in den Kirchen, der Urlaub mag dazu beitragen.

Aber es sind auch Zeiten, in denen etwas Besinnung und Nach-Innen-Gehen möglich ist, besonders gut geht das für manche Menschen – nicht für alle – in der Urlaubszeit im Sommer.

Severin Renoldner
ist römisch-katholischer Theologe und Philosoph an der Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz

„Er stürzt die Mächtigen vom Thron...“

Mitten im August hören sie da auf einmal ein Feiertagsevangelium, das eigentlich im Advent Gebrauch findet: Der Engel Gabriel kommt zu Maria und kündet die Geburt Jesu an. Na sowas! Maria antwortet - literarisch: mit einem feierlichen Gebet, das die Kirche – besonders Mönche und Ordensfrauen – in ihr tägliches, langes Abendgebet eingebaut haben: „Meine Seele preist die Größe des Herrn …“ und so geht es dann weiter.

Dieses Gebet Marias ist ein Gebetstext, in dem nichts von Gott er-beten wird, keine Not, mit der man kommt, keine Absicht, was die Betende will, sondern einfach nur Dank, Ausdruck der Freude, und Lobpreis. Worüber war Maria so begeistert, dass sie diese Verse gedichtet hat?

„Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Gott wird da hoch gepriesen, weil er irgendwie Gerechtigkeit herstellt: Die Armen, Hungernden und Bedürftigen werden reich beschenkt. Die Satten und Reichen brauchen ja nichts mehr. Sie haben schon alles. Jetzt bekommen sie nichts dazu. Anders als in der Politik, wo es oft umgekehrt läuft: Den Reichen werden noch Steuergeschenke dazu gegeben, und den Ärmeren wird ihr Unterhalt weggekürzt. Zuerst sind es nur die Flüchtlinge, dann die Langzeitarbeitslosen, dann kommen die anderen dran.

Ein Wirklichkeit, die noch nicht da ist

Gott stürzt die Mächtigen vom Thron, er lässt die Reichen leer ausgehen, beschenkt die Hungernden reich, holt die Armen zu sich, wo sie glücklich leben und gesättigt werden. Was könnte deutlicher sein als so ein Evangelium, das den Menschen ins Gesicht schreit: Ihr macht es falsch! Eure Politik ist verkehrt. Ihr müsst es anders herum machen: Die Armen kommen zuerst! Gott mischt sich ein in Politik und Wirtschaft. Warum wäre sonst von Reichen und Mächtigen die Rede?

Lebenskunst
Mittwoch, 15.8.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Ist das eine Illusion? Ein Wunschtraum? Eine Rede vom Jenseits – nach dem Tode? Maria betet das alles so vor sich hin, als sei es einfach Wirklichkeit. Ihrer Einsicht nach ist es so. Sie sagt nicht „bitte mach es so …“, sondern sie lobt Gott dafür, dass er es bereits jetzt tatsächlich so macht. Da stimmt etwas nicht?!

Der glaubende Mensch – und vor allem das ist Maria – kann eine Wirklichkeit bereits sehen, die noch nicht ganz da ist. Maria könnte auch sagen: „Diese Wirklichkeit ist für mich wahrer als das, was ich in der heutigen Politik und Wirtschaft erlebe.“ Das heißt nicht nur: eines Tages wird es so sein, sondern gewissermaßen: Es ist schon jetzt so. Die Reichen und Mächtigen werden vom Thron gestürzt, die Armen werden satt. Ich hoffe das, was Maria glaubt.