Bibelessay zu 1. Thess 1, 2 – 10

Ich bin in einer familiären Umgebung aufgewachsen, wo man der Meinung war, dass jeder seine Aufgabe hätte und alles nur funktionieren könne, wenn jeder, vom Großvater bis zur Enkelin das Seine auch ohne große Aufforderung tun würde.

Lauter Rädchen, die ineinander greifen, damit die Maschine läuft. Der Dank dafür, dass man seine Verantwortung wahrnahm, war der, dass jeder etwas vom Funktionieren des Ganzen hatte. Da bekam auch ich als Kind weder Motivation noch Lob, es war eine Sache der Vernunft, zu erkennen, dass es einfach notwendig war, dass auch ich meinen Teil dazu beitrug, z. B. Einkäufe erledigte oder beim Geschirrspülen half. Dass ich das oft äußerst ungern tat, steht auf einem anderen Blatt.

Luise Müller
ist evangelische Theologin und ehemalige Superintendentin

Eine Gemeinschaft

Und nun lese ich diesen Bibeltext, einen Abschnitt aus dem 1. Thessalonicherbrief, den der Apostel Paulus um das Jahr 50 an die Gemeinde dort schreibt. Und irgendetwas erinnert mich an meine Kindheit, - was genau, ist mir noch nicht ganz klar.

Man nimmt an, dass Paulus die Gemeinde in Thessalonich selbst gegründet hatte. Das war nicht ganz reibungsfrei vor sich gegangen, wie immer, wenn etwas Altes, Bestehendes von Neuem abgelöst wird. Eifersucht, Neid, Angst, und daraus resultierend eine Kampfansage an die neumodischen Ideen. Aber offensichtlich hatte das Christentum doch ein paar Menschen überzeugen können. Und nun, eine Zeit später, hat der Apostel von seinen Mitarbeitern erfahren, dass die Gemeinde weiterhin existiert, ja dass sie die Grundinhalte, die er ihnen gepredigt hatte, verinnerlicht hat und im täglichen Tun und Lassen umsetzt. Es war nach wie vor eine kleine Gruppe in einer von diversen anderen Religionen und Philosophien geprägten Umwelt. Sie hatten als Gemeinschaft zusammengefunden, waren da und lebensfähig. Aber eben auch immer wieder unsicher, ob ihr Weg und ihre Überzeugung richtig und zukunftsfähig sei.

Glaube, Liebe, Hoffnung

Und da, bevor er aktuelle Fragen beantwortet, erinnert sie Paulus eindringlich an drei Grundkonstanten des Christentums: Glaube, Liebe, Hoffnung. Gaben zuerst, und erst in zweiter Linie Ziele. Gottes Geschenk an mich und daraus resultierend die Aufgabe: das Erfahrene weiterzugeben. Das, wovon man selber lebt, auch anderen schmackhaft machen. Das, woran eine Gesellschaft gesunden kann, immer wieder vorzuleben, zu erklären und sich auch gegenüber Widerständen von außen nicht mundtot machen zu lassen. Ich bin gehalten von oben: Das ist der Glaube. Ich bin verbunden mit dem, was neben mir ist: Das ist die Liebe. Ich bin gerichtet auf das, was vor mir ist: Das ist die Hoffnung.

Lebenskunst
Sonntag, 2.9.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Das ist alles weit mehr als verzücktes Halleluja-Rufen. Weit mehr als gefühlvolle Lieder, weit mehr als Luftschlösser bauende Zukunftsvisionen. Das ist hauptsächlich Leben in den mühseligen Niederungen des Alltags, in der Überzeugung, dass Gott mir in Jesus Christus bewiesen hat, dass er hinter mir steht. Das ist Verbundenheit mit den Menschen in meiner Umgebung, die ich versuche so ernst zu nehmen, wie Jesus Christus mich ernst genommen hat. Und das ist die Erwartung, dass wir als christliche Gemeinde, obwohl wir so wenige sind, trotzdem mit Gottes Hilfe viel bewegen können.

Die Erfahrung meiner Kindheit hat mein Leben geprägt. Zu erkennen, in welchen Zusammenhängen ich mich befinde und was mein notwendiger Beitrag zum Ganzen ist, hilft mir auch heute. Und ich muss es zugeben: Lob für das, was gelingt, gehört ebenso dazu wie Hinweise auf das, was noch lange der Kritik bedarf. Insofern ist der Ansatz des Paulus gar nicht so schlecht.