Bibelessay zu Markus 7, 31 - 35

Die Situation Gehörloser hat sich in den letzten Jahrhunderten unglaublich verändert und wie so oft, am Anfang steht das Evangelium.

Jesus verließ das Gebiet von Tyrus wieder und kam über Sidon an den See von Galiläa, mitten in das Gebiet der Dekapolis. Da brachte man einen Taubstummen zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren. Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel; danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu dem Taubstummen: Effata!, das heißt: Öffne dich! Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit und er konnte richtig reden. Jesus verbot ihnen, jemand davon zu erzählen. Doch je mehr er es ihnen verbot, desto mehr machten sie es bekannt. Außer sich vor Staunen sagten sie: Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen.

Martin Jäggle
ist katholischer Theologe und Religionspädagoge

Taub und unverständlich redend

Ich musste es auch erst lernen: Taubstumm kann eine beleidigende Bezeichnung für Gehörlose sein. Jemanden taubstumm nennen, gilt jedenfalls als Diskriminierung, weil hier taub und stumm eng miteinander verbunden werden. Aber auch stumm und dumm werden oft zusammen gedacht.

Das Wort taub beschreibt einen Zustand der Gefühllosigkeit, wie taube Finger oder taube Ohren. Mit stumm wird das Fehlen an mündlicher Kommunikation bezeichnet. Gehörlose sind aber nicht gefühllos und ihre Schwierigkeit, sich lautsprachlich, also mündlich mitzuteilen, bedeutet schon gar nicht, dass sie sprachlos sind. Sie verfügen über die Gebärdensprache, die übrigens in Österreich als einem der wenigen Länder der Welt sogar in der Verfassung verankert ist. Jedenfalls bezeichnen sich Gehörlose selbst nie als taubstumm und sie möchten auch nicht als solche bezeichnen werden. Dies gilt es zu respektieren.

Lebenskunst
Sonntag, 9.9.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Das heutige Evangelium scheint das alles aber nicht zu kümmern, wenn hier doch ausdrücklich von einem Taubstummen die Rede ist. Aber in der Lutherbibel heißt es noch: Sie brachten ihm einen Tauben, der stumm war. Das Wort taubstumm stand Luther damals noch gar nicht zur Verfügung. Und genau übersetzt müsste es eigentlich lauten: Sie brachten zu ihm einen Tauben und unverständlich Redenden.

„Die Schöpfung seufzt“

Auf den ersten Blick haben wir die klassische Erzählung einer wunderbaren Heilung gehört: Menschen bringen einen Taubstummen zu Jesus mit der Bitte, ihn zu berühren. Dieser nimmt den Kranken zur Seite und heilt ihn in der damals konventionellen Weise. Das Verbot, darüber zu reden, erweist sich als unwirksam.

Für den namenlosen, gehörlosen Menschen, von dem hier erzählt wird, war es übrigens in der damaligen Gesellschaft besonders schwer, sich verständlich zu machen und verstanden zu werden. Der „Stummerl“, wie man ja früher zu sagen pflegte, galt nicht nur als „Dummerl“, sondern ihm fehlte auch die heutige Gebärdensprache als Kommunikationsmöglichkeit. Wie gering die sogenannten Taubstummen eingeschätzt worden sind, zeigt noch der Kirchenlehrer Augustinus, der sie als unfähig ansah zum Glauben zu kommen, da sie doch das Evangelium nicht hören konnten.

Auf den zweiten Blick erschließt sich die tiefere Bedeutung dieses Evangeliums und die Absicht seines Verfassers: Wenn Jesus seine Finger in die Ohren des Mannes legt, erinnert das an den Psalm 8, der den Schöpfer und die Schöpfung preist, „den Himmel, das Werk deiner Finger“. Jesu Finger sind hier wie die Finger des Schöpfers. Und wenn am Ende alle sagen „Er hat alles gut gemacht“, dann ist die sprachliche Anleihe an den Kehrvers des Schöpfungsgedichts, mit dem die Bibel eröffnet wird, offensichtlich: „Und Gott sah, dass es gut war.“ Jesus handelt hier wie der Schöpfer. Und wenn Jesus hier zum Himmel aufblickt und seufzt, erinnert es ausdrücklich an den Apostel Paulus, der schreibt, „dass die gesamte Schöpfung seufzt und in Geburtswehen liegt“. Er drückt damit das Leiden der Christen am gegenwärtigen Zustand der Welt aus und deren gleichzeitige Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung.

Die neue Schöpfung

Die neue Schöpfung, der Anfang einer neuen Welt, die mit Jesus beginnt, wird hier an der Heilung des Taubstummen sichtbar, sogar für alle, handelt es sich doch um einen Heiden und findet es doch auf einem überwiegend von Heiden bewohnten Gebiet statt. Exklusive, intensive Zuwendung, leibhaftige, körperliche Berührung gehen voran, das schöpferische Wort aber ist „Ephata!“ übersetzt mit „Öffne dich“ oder besser mit „Werde geöffnet“. Hier geht es also nicht um die Organe, sondern der ganze Mensch soll geöffnet werden auf den Mitmenschen und Gott hin. Und wenn sie dann vor Staunen sagen: Er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen, dann erinnert es an die vom Propheten Jesaja beschriebene messianische Zeit, die Zeit der endgültig besseren Zukunft: „Auch die Ohren der Tauben sind wieder offen, … die Zunge des Stummen jauchzt auf.“ Es ist einfach unglaublich, wovon hier erzählt wird und was es bedeuten soll. Aber es gibt auch eine unglaubliche Praxis, die nach Ludwig Wittgenstein den Worten ihre Bedeutung gibt.

Jemanden taubstumm nennen ist beleidigend,
jemanden taub und stumm machen ist unmenschlich,
jemanden aus der menschlichen Kommunikation ausschließen ist krankmachend.
Menschen sind nun einmal auf Beziehung angewiesen, sie brauchen berührende Erfahrungen und – vielleicht nur - ein Wort, das Wunder wirkt.

Es war ein langer Weg, den übrigens spanische Mönche, die sich als erste systematisch um die Bildung tauber Kinder angenommen haben, vorangetrieben haben. Heute sind Gehörlose – jedenfalls rechtlich - voll anerkannte Menschen der Gesellschaft und die Gebärdensprache steht allen als Kommunikationsmittel zur Verfügung.

Dieses Evangelium erzählt vom Anfang, vom Anfang einer neuen Schöpfung, die begonnen hat Wirklichkeit zu werden. Wer hätte das für möglich gehalten.