Bibelessay zu Markus 10, 17 – 30

„Meine Damen und Herren, um € 89,-- sind Sie dabei! – Nur € 89,-- kostet ein 24-stündiger Crash-Kurs „Obdachlos in Berlin“

Morgens um 8:00 Uhr gibt’s noch Frühstück in der Notschlafstelle, dann werden Sie standesgemäß „entkleidet“, d.h.: Geld, Smartphone, Kreditkarten, Schlüssel – alles, was Ihr Leben sicher und bequem macht, wird Ihnen abgenommen. Punkt 9:00 Uhr stehen Sie dann auf der Straße und verbringen die nächsten 24 Stunden mit Überleben: Passanten anbetteln, in Mistkübeln nach Essensresten wühlen, bei Regen und für die Nacht einen Unterschlupf suchen. Auf Wunsch werden Sie von einem Profi, also einem echten Bettler, begleitet. Nach 24 Stunden erhalten Sie ein Bettel-Diplom und können dann mitreden über das Thema Armut und Obdachlosigkeit!“

Markus Schlagnitweit
ist katholischer Theologe und Rektor der Ursulinenkirche in Linz

Reichtum trennt

Mit diesen Zeilen warb vor einigen Jahren ein in Berlin tatsächlich durchgeführtes Sozialexperiment um Teilnehmer. Es wollte authentische Erfahrungen von Armut und Ausgrenzung ermöglichen; wohl unbeabsichtigt vermittelte es aber auch die Erfahrung eines unüberwindlichen Grabens: die Erfahrung, dass Besitz von Geld, dass auch die Verfügbarkeit von Freunden und anderen sozialen Netzen sich wie ein undurchdringliches Polster zwischen einen Menschen und die tatsächliche Überlebensfrage schiebt. Der Bettelkurs-Teilnehmer weiß in jeder Sekunde um den nur vorübergehenden, experimentellen und freiwilligen Charakter seiner Armut, weiß zugleich um die Sicherheitsnetze, die es danach wieder gibt. Wirkliche Armut hingegen beginnt erst mit dem Ende jeder Sicherheit. Der freiwillige Bettelkurs-Absolvent und sein „professioneller“ Begleiter mögen einander vielleicht ein wenig näher gekommen sein; der Graben zwischen ihnen bleibt dennoch von existentieller Tiefe.

Es ist genau dieser existentielle Graben, den auch das Evangelium vom Nadelöhr anspricht: Da ist ein Mensch, der es gewiss ehrlich meint und gottgefällig leben will. Alle wichtigen Gebote hält er von Jugend an. Dieser Mensch ist vermögend – nicht nur im materiellen, sondern auch im moralischen Sinn: Er hat etwas vorzuweisen, worauf er sich berufen kann; das gibt Sicherheit – nicht nur materiell, sondern auch gegenüber dem eigenen Gewissen – und also gegenüber Gott. Aber er möchte noch mehr: Er möchte „das ewige Leben gewinnen“ – also sicher haben. Er spürt, dass da noch etwas ist, das ihm fehlt – und spürt offenbar genau das Entscheidende nicht, das ihn trennt von Gott und Seinem Reich: sein Vermögen, sein materieller Reichtum ebenso wie seine moralische Leistungsfähigkeit. Denn jeglicher Reichtum trennt.

Lebenskunst
Sonntag, 14.10.2018, 7.05 Uhr, Ö1

So wenig die authentische, ungeschützte Erfahrung von Armut einfach um € 89,-- zu machen ist, so wenig ist auch das Gottesreich käuflich – gewiss nicht für Geld, aber auch nicht durch irgendeine andere Form des Reichtums, wenn wir diesen einmal so definieren: Sicherheit, die nicht in der liebenden und deshalb freien, ungeschuldeten Zuwendung eines anderen gründet, letztlich: in der Liebe Gottes. Armut wäre in diesem biblischen Sinn das genaue Gegenteil davon: Leben, das nichts vorzuweisen hat und ausschließlich in der freien, ungeschuldeten Zuwendung eines anderen gründet bzw. im Vertrauen darauf.

Eingeständnis der Hilflosigkeit

Die grundlegende Frage lautet also nicht: Wie viel hast du geleistet vor Gott? Was hast Du alles getan, um das ewige Leben zu gewinnen? Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Wie groß ist Deine Armut? Wie sehr bist Du fähig, Dein Leben und Dein Glück von der Zuwendung eines anderen und letztlich von Gott abhängig zu machen, Dich also lieben zu lassen – ohne Gegenleistung und eigenes Verdienst?

Nicht dass Reichtum per se schon schlecht wäre; aber er macht es dem Besitzenden so unerhört schwer, in jener Unmittelbarkeit des Gottesreiches zu leben, in der Gott allein Grund und Sicherheit ist. Der Reichtum schiebt sich praktisch immer zwischen die Begegnung des Reichen mit seiner Lebenswirklichkeit. Er ist genau jenes (vermeintliche) Sicherheitsnetz, das der Begegnung seines Besitzers mit der eigenen Existenzfrage die letzte Unmittelbarkeit nimmt und das so auch die Beziehung zu Gott und Mitwelt stört. Das Geheimnis des Gottesreiches liegt aber gerade in der Gegenrichtung: in einer rückhalt- und wehrlosen Unmittelbarkeit.

Dieses Evangelium lässt ziemlich hilflos zurück. Denn wer darf sich schon als arm im Sinn des Evangeliums bezeichnen? Selbst den Gefährten Jesu erging es da nicht anders; auch sie erschraken und verzagten ob dieses grenzenlosen Anspruchs. Aber vielleicht kommt es gerade darauf an: diese Hilflosigkeit zu erfahren und anzunehmen und ihr nicht zu entfliehen oder auszuweichen. Denn was bedeutet das Eingeständnis solcher Hilflosigkeit anderes als den Verzicht auf irgendeine eigenmächtige Sicherheit Gott gegenüber? Was bedeutet sie anderes als eine letzte, unmittelbare Armut vor Gott?