Bibelessay zu Markus 10, 35 – 45

So einfach die fein erzählten Texte des Markusevangeliums oft auch klingen, so komplex sind sie doch. Auch dieser Text.

Dass Jesus hier auf die Bitte „Lass in deinem Reich einen von uns rechts und den andern links neben dir sitzen“ antwortet: „Ihr wisst nicht, um was ihr bittet“, das verweist auch darauf, dass sich an seiner Seite demnächst Gekreuzigte finden werden. Kein himmlischer Thron wird folgen, das wissen die Hörer damals schon und auch die Leser heute, sondern grauenhafte Hinrichtung. Das ist nur eine wichtige Spur, die in diesem Text gelegt wird.

Brigitte Schwens-Harrant
ist katholische Theologin, Germanistin und Feuilleton-Chefin der Wochenzeitung „Die Furche“

Sklave der Sklaven Gottes

Jede, jeder liest Texte mit dem je eigenen Kontext aus der jeweiligen Zeit, und das führt dazu, dass einmal diese Zeilen, dann jene auffallen. Als ich den Text nun wieder las, galt meine Aufmerksamkeit dem zweiten Teil, wo es in einer moralischen Belehrung an die um die besten Plätze Zankenden heißt: „Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“

Das sind Sätze, die nicht unbedingt auf die jahrhundertelang gewachsene Verfasstheit der Kirche hinweisen. Die hat das Gegenteil hervorgebracht – und nur in Bezeichnungen wie etwa „Servus servorum Dei" (lateinisch für „Sklave der Sklaven Gottes“) für den Papst oder in den Riten der Fußwaschung am Gründonnerstag klingt dieser Anspruch noch an.

Manche deuten diese Sätze eschatologisch, als Vorwegnahme des Reiches Gottes. Das macht Sinn, bedenkt man die Entstehungszeit des vielleicht in Syrien entstandenen Textes. Der jüdische Aufstand gegen die Römer führte im Jahr 70 zur Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels. Man fürchtete das Ende nahe.

Auch für das Hier und Jetzt gültig

Doch da viele Texte in diesen so widersprüchlichen Evangelien darauf hinweisen, dass das Reich Gottes schon angebrochen ist, richtet sich diese Belehrung wohl auch an das Hier und Jetzt, das heißt damals an die Gemeinden der ersten Christen, in denen sicher bald Eifersüchteleien und Machtspiele entstanden, wie halt immer, wenn Menschen zusammenkommen.

Lebenskunst
Sonntag, 21.10.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Adressaten des Markusevangeliums in Rom haben auch Kaiser Nero erlebt, sie wissen, was es bedeutet, wenn ein Despot seine Herrschaft unbarmherzig ausübt. Es gibt Freie, sie gelten als Person, und Sklaven, sie sind Besitz - die christliche Botschaft richtet sich erstaunlicherweise an beide und macht sie - zumindest theoretisch - gleich.

Auch heute noch provokant

Sosehr sich die Zeitumstände geändert haben mögen, die Umkehrung „wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein“ ist, wenn man sie ernst nimmt, auch heute provokant. Die Leistungsgesellschaft feuert an, mit Ellbogen den eigenen Platz zu verteidigen bzw. zu erobern; sie wirtschaftet, indem sie Konkurrenzen schürt; wer schwach ist, bleibt auf der Strecke. Auch heute treibt der eine oder andere Nero sein Unwesen. Selbst in Demokratien, in denen das Volk sich seine „Herrscher“ wählt, provoziert diese Ansage an christliche Kultur.

Macht als Auftrag zu dienen: Das würde ich gerne verantwortlichen Politikern ins Stammbuch schreiben, nicht nur jenen, die das Wort „christlich“ in ihren Parteinamen oder -programmen führen. Wer Macht gegen seine Untergebenen anwendet, statt ihnen zu dienen, missbraucht die Macht. Macht als Auftrag zu dienen: Das bedeutet in Demokratien auch, nicht nur den eigenen Wählern, der Mehrheit zuzuarbeiten. Sondern gerade die Minderheiten zu schützen, den Schwachen zu helfen.