Schonungsloser Blick auf das Selbst

Zum 100. Todestag von Egon Schiele: Egon Schiele hat mich bereits interessiert, als ich noch weit davon entfernt war, mich beruflich mit Kunst zu befassen. Mit 15 war mein Zimmer mit Schieleplakaten austapeziert und der Zeichner für mich so verehrungswürdig wie für andere Jugendliche ein Popstar.

Gedanken für den Tag 22.10.2018 zum Nachhören:

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Texte über das Boheme-Leben des exzentrischen Künstlers im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts habe ich mit Faszination gelesen: Noch heute sind mir viele Stationen lebendig in Erinnerung: Die Kindheit in Niederösterreich als Sohn eines Bahnhofvorstands, die manische Leidenschaft für das Zeichnen, die Freundschaft mit Klimt und anderen Avantgardisten jener Zeit, die wechselnden dramatischen Liebesbeziehungen, der Gefängnisaufenthalt aufgrund von Missbrauchsvorwürfen und der anschließende Freispruch – auch der frühe tragische Tod im Jahr 1918 mit nur 28 Jahren.

Johanna Schwanberg
ist Direktorin des Dom Museum Wien

Sitzender Männerakt

Heute ist mein Schielebild weniger verklärt und manchen Aspekten stehe ich nachdenklich gegenüber, gerade was den Blick auf den kindlichen Frauenkörper betrifft.

Eines hat mich aber damals wie heute gleichermaßen interessiert: die schonungslose Selbsterforschung des Künstlers. Mit dem ungeschönten Ins-Bild-Setzen des eigenen nackten, männlichen Körpers war Egon Schiele ein Novum in der Kunstgeschichte und fungiert bis heute als Vorbild für zahlreiche Gegenwartskünstler.

Wie sehr Schiele der eigenen Existenz in mitunter verstörenden Bildnissen auf den Grund ging, spiegelt sich etwa in der berühmten Selbstdarstellung „Sitzender Männerakt“ aus dem Jahr 1910. In diesem Großformat aus dem Leopold Museum Wien zeigt sich der Künstler in extremer Körperhaltung. Die unnatürlich gelbe Farbigkeit der Haut wie auch die leuchtend roten Stellen an Augen, Nabel, Brust und Geschlecht erwecken den Eindruck ungemeiner Intensität, so als würde die Figur von innen heraus brennen. Ein Gefühl, das Schiele nicht fremd gewesen sein dürfte, meinte er doch von sich selbst in einem Gedicht: „Ich bin Mensch, ich liebe den Tod und liebe das Leben.“

Musik:

Anne Queffelec/Klavier: „Modere“ aus: Valses nobles et sentimentales - für Klavier von Maurice Ravel
Label: Virgin 7593222