Bibelessay zu Markus 10, 46 – 52

Für den blinden Bartimäus, der sein Leben als Bettler am Stadtrand von Jericho fristete, weit ab von den Metropolen und auch weitab von den herkömmlichen Wirkungsstätten Jesu, muss es wie ein Lottosechser gewesen sein, als er mitbekam, dass Jesus in seiner Nähe ist.

Wie oft kommt es vor, dass einer vorbeikommt, der in der Lage ist, das persönliche Schicksal auf radikale Weise zu verändern? Wie oft begegnet man durch Zufall dem Menschen, der genau jenes Heilmittel hat, das man braucht? Bartimäus hat aber auch – ich bleibe im Bild des Lottogewinns – nicht vergessen, einen Schein mit den richtigen Zahlen auszufüllen und an das Glück zu glauben. Seine Lottozahlen im übertragenen Sinn sind die Worte des Sohn Davids.

Gerhard Langer
ist katholischer Theologe und Judaist an der Universität Wien

Blinde und geistig arme Gesellschaft

Damit gibt er im Sinne des Evangelisten die einzige richtige Antwort auf die Frage, wer dieser Jesus von Nazaret ist, nämlich der Messias. Dem entspricht, dass Jesus die Heilung der Blindheit des Bartimäus auf den Glauben des Mannes zurückführt. Nicht ein Heilungsakt, ein Kraut oder ein magischer Zauber haben die Heilung bewirkt, sondern der Glaube an die Besonderheit, an die Messianität des Heilers. Bartimäus spricht aber Jesus nicht nur als Messias an, sondern auch als Rabbuni, mein Meister, womit er ihn als Lehrer und Wegweiser anerkennt.

Bartimäus wird somit für das Evangelium zur Symbolgestalt einer blinden und geistig armen Gesellschaft, die ihr Dasein mehr schlecht als recht fristet, bis sie die Rettung in Gestalt des christlichen Erlösers und Lehrers erlebt. Dass seine Blindheit in einem übertragenen Sinn zu verstehen ist, darauf verweist wohl auch der Name Bartimäus, der zu Deutsch Sohn der Ehre bedeutet.

Lebenskunst
Sonntag, 28.10.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Initiative des Glaubenden

Timäus ist aber vor allem eine schon in der Antike sehr bekannte Figur in einem Dialog des Philosophen Plato. Timäus oder Timaios ist dort ein reicher Philosoph, der über Schöpfung, den Kosmos, die Welt, den Menschen und die Seele spricht. Dieses Werk war in der Antike und im Mittelalter überaus beliebt. Ist es nicht möglich, dass auch Markus darauf anspielt und in Bartimäus einen Vertreter der zwar ehrbaren, aber doch vor dem wahren Glauben blinden heidnischen Philosophie sieht? Auffällig ist jedenfalls auch, dass Jesus in der Geschichte nicht dazu aufruft, dass der Geheilte ihm nachfolgen soll. Bartimäus tut alles von sich aus. Er ist damit auch ein Symbol des aktiv Gläubigen. So wie er noch blind sein Obergewand zurücklässt, übrigens wahrscheinlich sein einziges Besitztum, um auf Jesus zuzustürmen, genauso sollen die Gläubigen alles, was sie besitzen, zurücklassen, um auf Christus zuzugehen.

Diese Heilungsgeschichte ist daher nicht nur ein frommes Lehrstück über die Kraft des Heilers und die erfüllte Hoffnung eines Blinden, sondern auch ein Auftrag an eine Gemeinde, die vielleicht lasch und wenig aktiv in ihrem Glauben und in den daraus folgenden Handlungen ist. Sie soll erkennen, dass ihre Ehre auf wackeligen Beinen steht, dass sie schnell blind und kraftlos ist, wenn sie sich nicht engagiert. Dazu passt auch, dass Jesus in der Geschichte nicht auf Bartimäus zugeht, sondern ihn zu sich kommen lässt. Alles ist auf die Initiative des Glaubenden ausgerichtet, er steht im Mittelpunkt. Dies ist zweifellos ein Auftrag, nicht passiv zu bleiben, oder, wie ich es wieder im Bild vom Lottospiel ausdrücken würde, endlich den Schein auszufüllen, der Glück bringt.