Die 36 Gerechten

In dieser Woche jährt sich zum hundertsten Mal das Ende des Ersten Weltkriegs und die Ausrufung der Ersten Republik. Hundert Jahre österreichische Geschichte, Bürgerkrieg, Diktatur, Inflation, Demokratie und Wirtschaftswunder. Auch hundert Jahre Frauenwahlrecht. Grund genug, über ein Phänomen nachzudenken, das politische Konflikte und Krisen begleitet: Gerechtigkeit.

Gedanken für den Tag 12.11.2018 zum Nachhören:

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Es gibt eine jüdische Legende, wonach 36 Gerechte, lamed-waw zadikim, das Fundament der Welt bilden, in der wir leben – eine erstaunliche Geschichte, in der Hoffnung und Skepsis eine unnachahmliche Mischung eingegangen sind. Sie ist hoffnungsvoll, insofern als es nur drei Dutzend Menschen bedarf, um die Welt zu tragen. Nur wegen der Tatsache, dass es wenigstens 36 Menschen gibt, denen das Rechte am Herzen liegt, hat Gott, über die Ungerechtigkeit der Menschen erzürnt, die Welt nicht untergehen lassen. Die Geschichte ist extrem pessimistisch, weil sie davon ausgeht, dass es unter den vielen Menschen, die es schon zum Zeitpunkt des Entstehens dieser Legende gab, so wenige gibt, die die Zuschreibung des oder der Gerechten ohne Einschränkung erfüllen.

Wolfgang Müller-Funk
ist Literatur- und Kulturwissenschaftler

Die Gerechten sind namenlos

Es ist, so besagt die Legende, schwer, sehr schwer, gerecht zu sein, sich selbst und den anderen gegenüber. Sie sagt auch, wie zentral die Gerechtigkeit für den menschlichen Seelenhaushalt ist und wie sehr die Menschen sich nach ihr sehnen. 1916 träumte Max Brod in einem Gedicht davon, eine Stadt „Gerechtigkeit“ zu bauen.

Womöglich beruht alle Religion auf der Sehnsucht nach einer Instanz, die gerecht ist, unbeeindruckt von eigenen Interessen und Egoismen. Die Gerechtigkeit hat, wie Hannah Arendt in einem Brief schreibt, mit Edelmut zu tun. Sie ist eine kompromisslose Moralität, die gerade nicht vordergründig moralisiert und das Gegenüber um des eigenen moralischen und politischen Vorteils willen anklagt.

Die Weisen sind namenlos, ihre guten Taten gereichen ihnen nicht zum Vorteil von Lob und Ruhm. Sie selbst wissen nicht einmal, dass sie zu den 36 Gerechten dieser Welt gehören. Selbst in der Epoche der Judenvernichtung, der Shoah, muss es diese paar Handvoll moralisch unbeirrbarer Menschen gegeben haben, die sich von Gerechtigkeit zum Handeln haben an- und verleiten lassen.

Musik:

Werner Bärtschi/Klavier, Daniel Corti/Viola und Alexandre Magnin/Flöte: „The Alcotts - 3. Satz“ von Charles Ives
Label: Ex libris 6057