Dass alle alles angeht

“Die Rettung der Menschheit besteht gerade darin, dass alle alles angeht.” Diese Überzeugung, die Alexander Solschenizyn in seiner Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises aussprach, prägt eine seiner bekanntesten Erzählungen: „Matrjonas Hof“.

Gedanken für den Tag 4.12.2018 zum Nachhören:

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Ein ehemaliger politischer Gefangener kommt in ein abgelegenes russisches Dorf und wird Lehrer – eine Situation, die Solschenizyn selbst erlebt hat. Der Lehrer der Erzählung findet hier, wie es heißt, „das echte, urtümlich Rußland“. Und tatsächlich stößt er hier, in der tiefen Provinz, auf eine Archaik und auf karge urtümliche Lebensformen, die sich ein Nicht-Russe kaum vorstellen kann. Vor allem das Leben von Matrjona, bei der sich der Lehrer einquartiert, ist davon geprägt.

Cornelius Hell
ist Literaturwissenschaftler und Übersetzer

Jene Gerechte

Matrjona ist in ihrem Leben viel Unrecht angetan worden, wie im Verlauf der Erzählung deutlich wird, und sie lebt mit schlechter Gesundheit in unvorstellbarer Armut. Ihr Mann ist aus dem Krieg nicht zurückgekehrt, und ihre sechs Kinder, die nicht überleben konnten, musste sie alleine begraben. Von ihren Verwandten wird sie nur ausgenutzt, und der Mann, der sie einmal geliebt hat, zerstört ihren Hof, ihre einzige Lebenswelt. Doch im Gegensatz zur Verwandtschaft, die von Gier getrieben ist, ist Matrjona nicht verbittert. Und als der Lehrer endlich einen Fotoapparat erwerben und Matrjona fotografieren kann, stellt er fest: „Immer haben die Menschen ein schönes Gesicht, die im Einklang mit ihrem Gewissen leben.“

Nach Matrjonas Tod muss der Lehrer zu ihrer Schwägerin ziehen. Für diese war Matrjona eine lächerliche Person: unsauber, nicht hinter Besitz her, nicht auf Kleidung versessen, und so dumm, fremden Leuten ohne Entgelt zu helfen. Doch das letzte Wort in der Erzählung hat der Lehrer. Es kommt aus einer andern Welt und einer anderen Zeit und mag etwas pathetisch klingen, aber es drückt aus, warum Matrjonas Leben alle etwas angeht:

Wir alle haben neben ihr gelebt und nicht begriffen, daß sie jene Gerechte war, ohne die, wie das Sprichwort sagt, kein Dorf bestehen kann.

Und keine Stadt.

Und nicht unser ganzes Land.

Buchhinweis:

Cornelius Hell, „Ohne Lesen wäre das Leben ein Irrtum“, Verlag Sonderzahl, März 2019

Musik:

Anton Hammer/Horn und RIAS Sinfonietta unter der Leitung von Jiri Starek: „IDYLL für Horn und Streicher“ von Alexander Glasunow
Label: Koch 316112