Bibelessay zu Matthäus 21, 1 – 11

Wenn in evangelischen Kirchen am 1. Adventsonntag die erste Kerze am Adventkranz entzündet wird, hören die Gottesdienstbesucher und -besucherinnen die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem.

Das mag überraschen. Viele denken bei dieser Geschichte natürlich an den Palmsonntag, den Beginn der Karwoche. Mit dem Einzug in Jerusalem beginnt die letzte große Etappe im Leben Jesu. Jesus kommt in Jerusalem an. In der Stadt seiner Gegner, der aristokratischen Elite. In der Stadt, in der er sterben wird.

Maria Katharina Moser
ist Theologin, Pfarrerin und Direktorin der evangelischen Hilfsorganisation Diakonie

Der König reitet auf einem Esel

Die Geschichte dieser Ankunft stellt die Leseordnung in evangelischen Gottesdiensten an den Beginn des Advent, der Zeit des Wartens auf Weihnachten, auf die Geburt Jesu. Adventus domini, die Ankunft des Herrn. Wer ist der, der da kommen soll?

„Wer ist der?“, fragt die ganze Stadt, als Jesus in Jerusalem einzieht. Auf einem Esel reitend. Jesus hatte zwei seiner Jünger das Reittier holen lassen, als sie in die Nähe von Jerusalem kamen: „Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt“, hatte er ihnen geboten. „Und sogleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer.“ Das ist die Ansage eines Königs: Der Herr braucht sie, der Kyrios, der Herrscher, der sein Besitzrecht geltend macht. Die Benutzung fremder Tiere ist Ausdruck eines königlichen Anspruchs. Das Tier, auf das Jesus, der Herr und König, hier Anspruch erhebt ist – ein Esel. Nicht etwa ein Pferd. Ein Esel. Ganz so, wie es im Alten Testament verheißen ist: „Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel.“

Lebenskunst
Sonntag, 2.12.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Es ist ein Vers aus dem Buch des Propheten Sacharja, den das Matthäus-Evangelium hier zitiert. Allerdings etwas abgeändert. Denn bei Sacharja heißt es: „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und Helfer, sanftmütig und reitet auf einem Esel.“ Der Prophet Sacharja beschreibt den König, der kommt als gerechten, als Helfer und als sanftmütig.

Der Weg der Sanftmut

Im Evangelium nach Matthäus bleibt von den drei Charakteristika nur die Sanftmut. Nicht etwa, weil es nicht wichtig wäre, dass der König ein Gerechter und ein Helfer ist. Sondern zum einen, um zu betonen, wie der Gerechte und Retter ist: sanftmütig. Und zum anderen, weil das Volk schon erfahren hat, dass Jesus ein Gerechter ist und hilft. Das Volk hat Jesu Worte, mit denen er die Armen und Leidtragenden und Friedenstiftenden seligpreist, gehört. Das Volk hat erlebt, wie Jesus Blinde und Lahme heilt. Und so ruft das Volk dem in Jerusalem einziehenden Jesus entgegen: „Hosianna!“, das heißt: Hilf doch! Der alte Ruf um Hilfe wird hier zu einem Jubelruf: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ Anders als die Jerusalemer Aristokratie und Elite, weiß und versteht das Volk, wer da kommt: der Herrscher, der Gott fürchtet und keine Gewalt ausübt. Der sanftmütige König. Er ist es, der da kommen soll. Er ist es, auf den Christen und Christinnen warten im Schein der Kerzen am Adventkranz.

Der Adventkranz, er ist selbst ein Symbol für den Weg der Sanftmut. Erfunden hat den Adventkranz der Gründer der Diakonie und evangelische Pfarrer Johann Hinrich Wichern im Jahr 1839 für die Straßenkinder Hamburgs, die er in seinem so genannten „Rauen Haus“ aufgenommen hatte. Die schlimmsten und schwierigsten Kinder hat er aufgenommen – die, die selbst im Gefängnis noch Probleme machen. Wichern hat gebrochen mit dem damals üblichen Weg, die Straßenkinder, die um zu überleben gebettelt und geklaut hatten, ins Zuchthaus zu stecken. Er hat diesen Kindern, die nichts gekannt hatten als Armut und Gewalt, in Familiengruppen von zehn bis zwölf Geborgenheit geschenkt und gute Bildung zukommen lassen. Sanftmut statt Zwang und noch mehr Gewalt – das war der Weg, den Pfarrer Wichern vor bald 180 Jahren eingeschlagen hat. Bis heute erinnert uns der Adventkranz daran, welche Hoffnung und Kraft im Weg der Sanftmut steckt.