Bibelessay zu Genesis 3, 9 - 15. 20

Gerade in ihrer Kombination ist die Wirkungsgeschichte der Lesungen dieses Tages enorm. Beide erzählen von einem Anfang.

Die alttestamentliche Lesung, die sogenannte Sündenfallerzählung steht als Teil der biblischen Urgeschichte am Beginn der Bibel. Das Evangelium, die Verheißung der Geburt Jesu, findet sich am Anfang des Lukasevangeliums und läutet nach lukanischem Verständnis, so die Sicht des Verfassers, eine Zeitenwende ein.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin und Germanistin und lehrt an der Universität Kassel

Heilige und Hure

Beide Bibelpassagen erzählen von Frauen. Da ist die Ischa, die Frau des Paradiesgartens, die gegen das Verbot Gottes verstößt. Als erste isst sie die Frucht vom Baum in der Mitte des Gartens. Gemeinsam mit dem Mann wird sie aus dem Paradies vertrieben. Dort erhält sie den Namen Eva, was so viel heißt wie: Mutter alles Lebendigen. Das wird sie auch sein: Sie gebiert ihre Söhne – unter Anstrengungen und Schmerzen, so, wie Frauen eben Geburten erfahren. Die Maria des Lukasevangeliums wird ebenfalls Mutter werden, diese Botschaft überbringt ihr der Engel Gabriel. Jesus soll sie ihn nennen, was so viel bedeutet wie „Gott rettet“, und er wird so außergewöhnlich werden, wie die Umstände seiner Zeugung. Denn von Josef konnte er nicht sein, der Sohn der Jungfrau, der der „Sohn des Höchsten“ genannt werden wird.

Die beiden Frauen markieren, so wie sie von den biblischen Autoren geschildert werden, Gegensätzliches. Die Ischa handelt gegen das Verbot Gottes, Maria dagegen übergibt sich Gottes Willen. Die eine will wissen, Gut und Böse voneinander unterscheiden können. Die andere scheint auf Wissen eher zu verzichten. Lediglich kurz und pragmatisch ist Marias Nachfrage: „Wie soll das gehen?“ Die Ischa strebt nach dem Höchsten, dem „Sein wie Gott“. Maria dagegen stellt sich mit ihrem Körper, ihrer ganzen Existenz in den Dienst Gottes: „Mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ Die christliche Tradition hat beide Erzählungen schon früh zueinander in Beziehung gesetzt und die Gegensätze weiter ausgemalt. Sie hat die Ungehorsame gegen die Gehorsame gestellt, die Verführerin gegen die keusche Jungfrau. Und während gemäß dieser Tradition durch Eva die Sünde in die Welt kam, ist Maria frei von der ererbten Sünde, so sagt es das 1854 durch Papst Pius IX. verkündete Dogma.

Mütter alles Lebendigen

In dieser Gegenüberstellung sind Eva und Maria zu Prototypen des Weiblichen geworden. Für die Frauen waren beide Bilder einigermaßen fatal. Sie suggerieren eine Wahl: Frauen können demütig sein wie Maria, gehorsam und hingebungsvoll in allen Lebenslagen. Sind sie es nicht, sind sie sündhaft wie Eva, ungehorsam und selbstsüchtig. Es ist die Wahl zwischen Heiliger und Hure, die den Frauen mit diesen Bildern zur Verfügung gestellt wurde.

Lebenskunst
Samstag, 8.12.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Befreit man die Erzählungen von dieser Deutung als weibliche Prototypen, lassen sie sich freilich auch anders verstehen. Gemeinsam loten die Darstellungen der beiden Frauen die Bandbreite aus, innerhalb der sich menschliches Leben abspielt. Das Streben der Ischa nach Selbstständigkeit, Autonomie, nach gottgleicher Erkenntnis steht auf der einen Seite. Es ist die Weisheit der Erzählung, dass dieses Streben nicht in Vollkommenheit mündet, sondern in der Einsicht, dass der Mensch nackt ist – schutzlos, verletzlich, sterblich. Am anderen Ende der Bandbreite steht eine Hingabe, die das eigene Leben in die Verfügung des anderen stellt, und auch dort zeigt die Erzählung die letzte Konsequenz. Maria ist Vorschein ihres Sohnes, der diese Hingabe leben wird bis zum Tod. Menschliches Leben spielt sich dazwischen ab: zwischen Selbstbehauptung und Hingabe, Erkennen und Vertrauen, Autonomie und Beziehung. Die Frauen spannen den Rahmen, in dem sich der Mensch bewegt – und sind darin tatsächlich Mütter alles Lebendigen.