Bibelessay zu Apostelgeschichte 6, 8 – 10; 7, 54 – 60

Am zweiten Weihnachtsfeiertag scheint es mit dem Weihnachtsfrieden schon wieder vorbei zu sein. Der Festtag des Heiligen Stephanus ist mit einer Geschichte tödlicher Gewalt verbunden.

Da ist zunächst die Erzählung der Apostelgeschichte: Stephanus ist ein Anhänger Jesu – ein Mann wie die alten Propheten, voll Gnade, Weisheit und Kraft. Doch es entsteht Streit, und Stephanus wird in einer Art Lynchjustiz vor den Toren der Stadt gesteinigt.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin und Germanistin und lehrt an der Universität Kassel

Der erste Märtyrer

So tödlich wie die Erzählung selbst ist aber auch die Geschichte ihrer Rezeption. Stephanus gilt seit den Kirchenvätern als der erste Märtyrer, getötet von den Juden, die die Kirche schon bald als „treulos“ und „verräterisch“ gebrandmarkt hat. In dieser Rezeption wurde die Stephanus-Erzählung zum Teil eines christlichen Antijudaismus mit seiner langen, prekären Geschichte der Diskriminierung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden. Es ist nicht zuletzt diese Rezeptionsgeschichte, weshalb Exegetinnen und Exegeten sich die Erzählung von Stephanus heute genauer ansehen.

Das Bild, das sich mittlerweile abzeichnet, ist deutlich vielschichtiger als ein einfacher Konflikt „Juden gegen Christen“. Aufschluss versprechen hier die Textstellen, die gemäß der katholischen Leseordnung für die Gottesdienste am 2. Weihnachtsfeiertag ausgelassen werden. Dies sind zum einen die Vorwürfe der Gegner. Zum anderen ist hier die lange Verteidigungsrede des Stephanus von Interesse. Die Rede dürfte kaum historisch so gehalten worden sein, sondern sie ist eine Stilisierung des Lukas, des Verfassers der Apostelgeschichte. Sie ist vollgepackt mit Theologie.

Richtige Fortsetzung der Tradition

Im Zentrum steht der Tempel von Jerusalem und die Kritik, die Stephanus daran übt. Zur Zeit der Abfassung der Apostelgeschichte ist der Tempel längst von den Römern zerstört. Die Fragen, die sich dadurch stellen, sind herausfordernd. Wie konnte Gott das zulassen? Und wie lässt sich denken, dass Gott anwesend, bei seinem Volk ist, wenn nicht mehr in seinem Heiligtum? Die Diskussion darüber wird breit geführt. Antworten werden in den Schriften des Volkes Israels gesucht. Auch Stephanus tut dies. Ausführlich erzählt er in seiner Rede vom Handeln Gottes im Buch Exodus, von der Gefangenschaft des Volkes Israel in Ägypten und seiner Befreiung. Hier findet Stephanus Bezugspunkte: Angesichts der bewegten Geschichte des Volkes Israel war es schon immer zu eng gedacht, Gott auf ein feststehendes Gebäude zu beschränken.

Lebenskunst
Mittwoch, 26.12.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Denn, und hier beruft er sich auf den Propheten Jesaja – nichts, was Menschen bauen oder modellieren, ist dazu geeignet, die Anwesenheit Gottes zu garantieren. Stattdessen blickt Stephanus in den Himmel und sieht dort, in der Weite, die die ganze Welt umspannt, die Herrlichkeit Gottes. Denn es steht ja auch schon im Buch Deuteronomium im Ersten oder Alten Testament, dass Gott in den Himmeln wohnt (26,15). Die Argumentation der Stephanusrede ist damit tief in den Schriften des Judentums verankert. Lukas zieht hier gerade keinen Graben zwischen Juden auf der einen und Christen auf der anderen Seite. Vielmehr sucht er deutlich zu machen, dass die Kritik am Tempel gerade nicht neu ist, dass sie dem gerecht wird, was zutiefst in der hebräischen Bibel verankert ist: dass Gott bei aller Zugewandtheit sich immer auch entzieht. In der Tempelkritik geht es damit nicht um Judentum oder Christentum, sondern um die richtige Fortführung der Tradition des Volkes Israel.

Auseinandersetzungen um Identität

Freilich bleibt ein Stein des Anstoßes. Denn Neues, anderes bewegt den Stephanus der Apostelgeschichte dennoch. Es ist seine Beziehung zu Jesus von Nazareth, der für ihn, dem Nichtjuden, zum Schlüssel geworden ist, diese Tradition Israels zu verstehen. In seiner Vision, in der er Gottes Herrlichkeit sieht, erkennt er auch den Messias, übersetzt Christus, als den Menschensohn, der zur Rechten Gottes sitzt. Es ist die Christologie, die das Fass zum Überlaufen bringt und die Steinigung initiiert. Und nach und nach wird das Christusbekenntnis dazu führen, dass Juden und Christen getrennte Wege gehen.

Die Episode zeigt Auseinandersetzungen um Identität und in aller Deutlichkeit die Gefahr, die in diesen liegt. Wenn es darum geht, worauf Menschen ihre Hoffnung setzen, was sie für wahr und richtig halten, sind wir zutiefst persönlich engagiert und emotional involviert. Die Stephanus-Episode weist freilich auch einen Umgang mit Spannungen, mit unseren Emotionen, der dann doch zurück zu Weihnachten führt: „Herr rechne ihnen diese Sünde nicht an.“ Selbst im tödlichen Konflikt hält Stephanus an der Feindesliebe fest. Er bleibt darin dem Jesus treu, der diese Feindesliebe gefordert hat und dessen Geburt zu Weihnachten gefeiert wird. Am Frieden von Weihnachten festzuhalten ist angesichts der Stephanus-Erzählung nicht nur ein Traum. Es ist eine Verpflichtung.