Bibelessay zu Johannes 1, 1 – 5. 9 – 14

Das Vaterunser zählt 56 Worte. Die 10 Gebote bestehen aus 297, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung aus 300 Worten. Die Verordnung der EU-Kommission für den Import von Karamellerzeugnissen umfasst 26.911 Worte.

Der Befund ist eindeutig: Wirklich wichtige Botschaften kommen mit sehr wenigen Worten aus. Ja, gerade in den bewegendsten Augenblicken, da, wo Glück oder auch Schmerz einen überwältigen – da versagen Worte oft überhaupt ihren Dienst. Wer kennt etwa nicht das krampfhaft heitere Geplänkel am Bahnsteig in den Augenblicken vor einem schweren Abschied? Oder die oft fast schon komische Hilflosigkeit beim Versuch, einem Menschen die eigene Liebe zu erklären? Oder das unsichere Gemurmel gegenüber Trauernden, wenn sich alle Beileidsbekundungen als der Trauer nicht gewachsen erweisen? – Oder umgekehrt dieses einfache, schlichte Ja-Wort, das bei jeder Hochzeit im Mittelpunkt steht: Einfach nur „Ja“ – nicht mehr; und doch ist es eigentlich alles – alles, was zwei Menschen einander überhaupt zusagen können.

Markus Schlagnitweit
ist katholischer Theologe und Rektor der Ursulinenkirche in Linz

Mit wenigen Worten

Also: Die wahrhaft entscheidenden Mitteilungen des Lebens: Liebe, Solidarität im Leid, Dankbarkeit, Treue – das alles ist zumeist in ganz wenigen Worten sagbar – und zugleich niemals durch Worte allein: Es muss auch konkret, spürbar, leibhaftig – also: Fleisch werden, unmittelbar in Umarmungen, in Tränen, im Reichen der Hände; und in weiterer Folge in Taten, in einem Verhalten, in einem Leben, in dem das Mitgeteilte auch handfest zum Ausdruck kommt, in dem es verbindlich wird und sich bewahrheitet.

Eine ähnlich wortkarge und zugleich an Dichte kaum zu überbietende Botschaft steht im Mittelpunkt des Weihnachtsfestes. Und gewissermaßen ist ja auch das hier und heute gefeierte Geschehen so etwas wie eine Hochzeit: Gott selbst sagt bedingungslos „Ja“ zum Menschsein, indem er selbst Mensch wird in dem kleinen Kind von Bethlehem. Nicht dass Gott den Menschen nicht immer schon, von allem Anfang an geliebt hätte. Nicht dass Er diese, Seine Liebe nicht immer wieder und auf vielerlei Weise bekundet hätte; die gesamte Bibel handelt im Grunde immer nur davon. Aber jede Liebeserklärung drängt danach, irgendwann einmal endgültig, verbindlich – also Fleisch zu werden.

Das Ja-Wort Gottes

Und genau das feiern wir zu Weihnachten: Das göttliche Ja-Wort wird Fleisch. Die Liebe Gottes zum Menschen wird unüberbietbar wirklich, indem Er selbst sich dem Menschsein rückhaltlos verbindet. – Und wie sehr Er das tut! Als das schutzlose Kind von Obdachlosen tritt er ein in diese Welt. Nicht in einem warm erleuchteten, sauberen Zimmer tut er seinen ersten Atemzug, sondern in der dumpfen Nacht eines Viehstalls. – Hier wird deutlich: Das „Ja-Wort“ Gottes ist wirklich bedingungslos – nicht geknüpft an einen gesicherten Lebensstandard, an eine angenehme Gesellschaft, an rosige Zukunftsaussichten. Wie bedingungslos dieses in Jesus Christus fleischgewordene Ja-Wort Gottes in letzter Konsequenz war, das sollte sich rund 30 Jahre später in noch radikalerer Weise zeigen: als Er sich nicht einmal der Katastrophe am Kreuz verweigerte. Dessen gedenken wir zu Ostern. Aber den Beginn der Hochzeit Gottes mit den Menschen, den feiern wir heute.

Lebenskunst
Dienstag, 25.12.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Noch einmal: Das Ja-Wort Gottes ist bedingungslos. Es sagt nicht nur Ja zu den schönen und geliebten Seiten des Menschseins; es ist auch und gerade ein Ja zu den Nächten menschlichen Daseins – oder nein: Es ist ein Ja diesen Nächten zum Trotz. Es ist ein Ja trotz der Kälte und Einsamkeit in den dunklen Stunden des Lebens; ein Ja trotz der Armut und Schutzlosigkeit, denen Menschen zuweilen ausgesetzt sind; ein Ja trotz der Ängste und Leiden, die manchen Menschen das Leben zur Qual werden lassen.

Die Verordnung der Brüsseler Kommission für den Import von Karamellerzeugnissen umfasst 26.911 Worte. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung braucht 300, die 10 Gebote 297 Worte. Das Vaterunser findet mit 56 Worten das Auslangen. Die Botschaft von Weihnachten – diese bewegendste Botschaft der Welt besteht nur aus einem einzigen, fleischgewordenen Wort: Immanuel – Gott-mit-uns.