Armut in Österreich

Vor kurzem war ich in der Wiener Obdachloseneinrichtung Gruft zu Besuch. Noch vor der Tür wurde ich von einem gut gekleideten jungen Mann angesprochen. Nennen wir ihn Gabriel.

Zwischenruf 23.12.2018 zum Nachhören:

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Auf den ersten Blick hätte man nicht geahnt, dass es sich in seinem Fall um einen obdachlosen Menschen handelte. Gabriel hat mit erzählt, dass er seit einigen Wochen immer wieder in die Gruft käme. Abends zum Essen und um die Nacht unterhalb der Kirche in der ehemaligen Gruft der Barnabiten zu verbringen.

Michael Landau
ist Präsident der Caritas Österreich

Die Scham war zu groß

Ich erinnere mich an Gabriels helles und freundliches Gesicht und daran, dass er viel erzählt hat. So als hätte ihm Wochen und Monate lang niemand zugehört. Er erzählte von seinem Leben, seinem Beruf, davon wie er zuerst diesen und irgendwann auch seine Wohnung verloren hat. An einen Satz erinnere ich mich noch sehr gut: Gabriel sagte: „Ich brauchte drei Anläufe, um in die Gruft zu kommen. Bei den ersten zwei Versuchen hab ich auf der Schwelle kehrt gemacht. Die Scham war einfach zu groß. Ich habe mich geschämt…“

Ich weiß nicht, ob Gabriel auch heute Nacht in die Gruft gehen wird, um dort zu schlafen. Ich weiß nicht, ob er vielleicht wieder auf eigenen Beinen steht, oder wieder arbeitet. Das wäre das Ziel. Aber ich weiß, dass auch heute wieder, einen Tag vor dem Heiligen Abend, viele Frauen und Männer in Obdachloseneinrichtungen wie der Gruft schlafen werden. Auch morgen und übermorgen wird es so sein.

Im Kleinen wie im Großen

15.000 Menschen sind in Österreich wohnungslos gemeldet. 208.000 Menschen leben in Wohnungen, in denen es auch über die Feiertage kalt bleibt, weil das Geld zwar für die Miete – nicht aber für die Heizkosten reicht. Das ist auch zu Weihnachten schmerzliche Realität. Aber vielleicht sollten wir Weihnachten – das Fest der Geburt Christi – zum Anstoß nehmen, um darüber nachzudenken, wie es unseren Mitmenschen geht.

Zwischenruf
Sonntag, 23.12.2018, 6.55 Uhr, Ö1

Die Fragen, die wir uns in der Vorbereitung auf das Fest der Nächstenliebe stellen sollten, lauten nicht: Habe ich genügend Geschenke gekauft? Und ist alles perfekt organisiert? - Die Frage, die wir uns stellen sollten, lautet vielleicht eher: Wie kommt auch durch mich mehr Liebe in die Welt? Im Kleinen, wie im Großen. Im Evangelium lesen wir: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan – also Christus.

„Not sehen und handeln“

Ich hoffe, ich störe mit diesem Anstoß zur Gewissensreflexion den angehenden Weihnachtsfrieden nicht zu sehr. Aber, Weihnachten allein wird unsere Welt nicht ändern – das müssen wir schon selbst tun! Die Menschwerdung Gottes ist Ermutigung, auch Anstoß zur Menschwerdung des Menschen, zur Entfaltung des Guten, das in Jeder und Jedem von uns steckt.

Nur wir selbst können Hilfe von Mensch zu Mensch leisten. Nur wir alle gemeinsam können jenen beistehen, die gerade unsere Hilfe brauchen; vielleicht in unserer Nähe. Wir alle sind gefragt, dort wo wir stehen, Menschen von den Rändern der Gesellschaft wieder in unsere Mitte zu holen. Und das passiert auch! Das geschieht an den 1.600 Schauplätzen in Österreich, an denen das Caritas-Motto „Not sehen und handeln“ gelebt wird: In den Lerncafés, den Lebensmittelausgabestellen, den Mutter-Kind-Häusern, Familienzentren, natürlich in den Wärmestuben vieler Pfarren – und nicht zuletzt im nachbarschaftlichen Miteinander.

Gemeinsam an einer guten Zukunft arbeiten

Zur Menschwerdung und zum Mensch-Sein gehört ganz wesentlich, aufeinander zu achten und füreinander da zu sein. Der Schlüssel zu einem geglückten Leben liegt nicht darin, sich nur um das eigene Glück, sondern sich auch um das Glück der anderen zu sorgen. Ohne ein Du wird keiner zum Ich.

Weihnachten ist ein Fest der Geburt. Es legt eine Grundmelodie der Hoffnung und Zuversicht in unser Herz. Der Blick auf Ankunft und Wiederkunft des Erlösers lädt uns ein, neu eine Sprache der Achtsamkeit und des Zusammenhalts einzuüben. Halten wir unser Herz offen und den Blick weit. Ohne Furcht. Und lassen wir uns unserer Empathiefähigkeit nicht berauben. Denn nur gemeinsam können wir an einer guten Zukunft für möglichst alle Menschen arbeiten. In diesem Sinne wünsche ich einen stimmigen 4. Adventsonntag, und heute schon ein frohes, gesegnetes Fest! (– Alles Liebe!)