Bibelessay zu Jesaja 40, 1 - 5. 9 – 11

Wie soll oder wie kann man die Bibel lesen? Das war die erste und große Frage, die ich mir stellte, als ich diesen Text des unbekannten Propheten las, der am Jesajabuch weitergeschrieben hat und den man Deuterojesaja nennt, was wörtlich bedeutet: der zweite Jesaia.

Mit diesem mitreißenden Text beginnt Deuterojesaja seinen Abschnitt des Jesajabuches; und Deuterojesaja wird nicht der letzte sein, der die Schriftrolle des Jesaja erweitert. Nach ihm wird noch einmal ein Unbekannter ans Werk gehen und Texte von ähnlicher dichterischer Qualität hinzufügen; auch er blieb ohne Namen und wird Tritojesaja genannt, der dritte Jesaia. Jesaia selbst schrieb in der 2. Hälfte des 8. Jhdts. vor Christus, Deuterojesaja etwa 200 Jahre später, um das Ende des Babylonischen Exils, als Jerusalem noch verwüstet war, Tritojesaja knapp danach.

Wolfgang Treitler
ist katholischer Theologe und Judaist

Forderung und Überforderung

Wie also kann man den Text dieses großen, unbekannten Prophetenschreibers lesen? Martin Luther hat zwei Wege der Bibellektüre ins abendländische Bewusstsein gleichsam eingehämmert: den einen Weg, einen Text als Gesetz zu lesen, und einen zweiten Weg, ihn als Evangelium verstehen zu können, das heißt zur Botschaft von der Erlösung allein durch Gott.

Auf dem ersten Weg, dem des Gesetzes, spricht ein Bibelstück Forderungen aus, von denen Luther sagte, dass man sie erfüllen müsse und dass man gleichzeitig erfahre, dass man sie in Wahrheit kaum oder gar nicht erfüllen kann. So kann ich den heutigen Text durchaus lesen – als Forderung, als Verpflichtung, die mich beansprucht und zugleich überfordert: Kann ich Gott wirklich den Weg bereiten, so dass Gott selbst kommen kann? Täler sollen sich heben, Berge senken – wer kann das schon vollbringen? So etwas übersteigt das menschliche Vermögen, nicht nur technisch, sondern wohl auch seelisch. Ich habe größte Zweifel, ob eine derart eintönige Ebene ohne Täler und Hügel überhaupt noch etwas von der Schönheit der Schöpfung anbieten würde.

Komprimierte Bilder

Auf dem zweiten Weg, den Luther benennt, kann man hoffen, den Text als Evangelium zu verstehen. Luther macht das rein von göttlicher Gnade abhängig. Ohne sie wandelt sich keine einzige Zeile der Bibel zum Evangelium. Ich habe größte Zweifel, dass eine solche Lektüre überhaupt gelingen kann. Denn ich weiß ja nie, ob ich in der Gnade leben darf, einen Text wie diesen als Rettungsbotschaft zu verstehen. Und wenn man sich diese Gnade gleichsam erzwingen möchte, um den Text als Evangelium hören zu können, dann spricht er mir gerade nicht die Erlösung zu, sondern spiegelt mir meine eigene, verlorene Verkrampfung zurück.

Lebenskunst
Sonntag, 13.1.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Am Ende der Weihnachtszeit, das mit dem heutigen Sonntag, dem Fest der „Taufe des Herrn“, gesetzt ist, möchte ich diesen Text, der noch einmal die Kraft des Advent und seiner Hoffnung zusammenfasst, jenseits dieser Alternative lesen; als Text eines großartigen Traumes, der mit seinen Bildern bis heute eine unglaubliche Frische bewahrt hat. Ja, man kann viele Texte der Bibel als Träume lesen und verstehen lernen. Und die Bibel kennt auch namhafte Träumer und erzählt von ihnen: Jakob, sein Sohn Josef – und dann auch der Josef, der mit seinen Träumen durch die Weihnachtsgeschichten geistert. Nach dem Matthäusevangelium hing das Geschick Jesu auch an den Träumen Josefs. Sie gaben Orientierung. Träume sind nicht fahrige Geschichten, sondern komprimierte Bilder in der Nacht oder auch am Tag.

Ein Tagtraum

Und so lese ich den heutigen Prophetentext als Tagtraum. Wie der unbekannte Mann damals, so blicke auch ich heute auf Jerusalem, eine Stadt mit den Spuren einer mittlerweile 3000-jährigen Geschichte. Unzählige Gewalthandlungen haben sich gegen die Stadt gerichtet, die Jerusalem heißt, also Stadt des Friedens. Schon der Name dieser Stadt ist ein Traum. Jerusalem blieb stets Ort eines großen Traumes, der sich durch all die Zeiten fortgesetzt hat, weitergeträumt wurde, auch wenn er selten und nur kurz Wirklichkeit werden konnte. Das spricht nicht gegen die Träume, sondern gegen die Wirklichkeit. Denn solche Träume, wie sie dieser Text wiedergibt, schaffen Offenheit, sie schaffen Zukunft, sie schaffen Transzendenz. Solche Träume geben frei und schenken Menschen eine unauslöschbare Ahnung des kommenden Gottes.

Es ist dieser Traum, der vor einigen Wochen an der Schwelle der Weihnachtszeit und des kirchlichen Jahreskreises gestanden ist. Und ich wünsche sehr, dass auch am Ende der Weihnachtszeit in den Westkirchen dieser Traum des kommenden Gottes mit seinem Licht und seinen herrlichen Bildern die Niederungen des Alltags begleiten wird.