Bibelessay zu 1 Korintherbrief 12, 4 – 11

Es war eine Zeit, als noch alles in Bewegung und fast nichts institutionalisiert war. Zwei Jahrzehnte früher war in Jerusalem Jesus am Kreuz gestorben. Seine Jüngerinnen und Jünger bildeten etwas wie eine Sekte innerhalb des Judentums.

Der ehemalige Feind und Verfolger der Anhänger des Gekreuzigten, ein Pharisäer aus dem Stamm Benjamin mit Namen Schaul, war überzeugt, dass die Botschaft Jesu nicht nur den Juden, sondern allen Völkern gelte. Nach ziemlich heftigen Diskussionen mit den Jerusalemern widmete er sich der Aufgabe, die später die Bezeichnung Heidenmission bekam.

Franz Josef Weißenböck
ist katholischer Theologe und Publizist

Lob und Mahnung

Schaul, uns bekannt unter dem griechischen Namen Paulos, latinisiert Paulus, gründete auf seinen Predigtreisen Gemeinden, in denen Jesus als der Gesalbte Gottes, als Auferstandener und wohl als Gott erkannt und verehrt wurde. Die Anhänger dieses neuen Glaubenswegs kamen aus dem Volk der Juden und aus den anderen Völkern, die später unter dem Begriff „Heiden“ zusammengefasst wurden. Paulus schrieb Briefe an die jungen Gemeinden, damit sie nicht vom Weg abkämen, auch an die Gemeinde in Korinth.

Es waren bewegte Zeiten, in denen viel gewachsen ist in den Gemeinden und manches auch ins Kraut geschossen sein mag. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass in den Gemeinden auch darüber gestritten wurde, was der richtige Weg sei. Das gilt wohl gerade in einer wichtigen Hafenstadt wie Korinth, in der viele Ideen zusammenströmten. Ich stelle mir die Gemeinde von Korinth als eine sehr lebendige, ideenreiche, aufregende Gemeinde vor.

Lebenskunst
Sonntag, 20.1.2019, 7.05 Uhr, Ö1

In seinem Brief lobt Paulus die Gemeinde eingangs ausdrücklich dafür, weil ihr keine Gnadengabe fehle. Er hat aber auch Anlass zur Mahnung. Bei aller Lebendigkeit und Buntheit, bei der Vielfalt der Meinungen und Begabungen, mahnt er, vergesst nicht, dass dies alles von dem einen Gott kommt, dass es bei aller Verschiedenheit nur den einen Herrn gibt und nur den einen Geist.

Zwei-Klassen-Gesellschaft

Das war der ungestüme Anfang, als in Rom Kaiser Claudius herrschte und nicht das Wachstum der Gemeinden zu einer weltumspannenden Kirche erwartet wurde, sondern die baldige Wiederkunft Jesu auf den Wolken des Himmels und damit das Ende der Zeiten.

Wir wissen, wie es weitergegangen ist, wie das Christentum zur Reichsreligion wurde und zu einer Institution mit allem, was dazu gehört: feste Bräuche, strenge Regeln, eine Hierarchie und fixe Ämter. In einem langen Prozess der Sakralisierung und Klerikalisierung wurde die römische Kirche zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der zwischen Klerikern, also den Geistlichen auf der einen Seite, und so genannten Laien auf der anderen unterschieden wird und in der die einen alles und die anderen nichts zu sagen haben. Die Charismen wurden zum Monopol der Kleriker. So ist das bis auf den heutigen Tag, und neuerdings beklagt sogar der Papst öffentlich das System des Klerikalismus.

Niemand ist ohne Charisma

Paulus betont die Vielfalt der Gnadengaben, der Charismen, und dass niemand ohne Charisma ist, der die Taufe empfangen hat.

Was wäre das für eine wahrhaft katholische, das heißt alle umfassende Kirche, in der diese Charismen erkannt und anerkannt würden! Was wäre das für eine Kirche, in der es dem Geist erlaubt und ermöglicht würde, zu wirken und in der alle ihren Beitrag zum Wohl aller einbringen könnten! Ja, alle, auch die Frauen. Denn bis zur Stunde werden ihre Gnadengaben nur sehr eingeschränkt und begrenzt anerkannt und gewürdigt. Eine Gemeinde leiten, das Evangelium verkünden und predigen, den Vorsitz beim Gottesdienst ausüben, auch bei der Feier der Eucharistie – alles das soll tun, wer das Charisma dazu hat. Der Geist, sagt Paulus, teilt seine besonderen Gaben zu, wie er will. Und wer wäre so verwegen zu behaupten, dass Gott den so genannten Laien, davon die gute Hälfte weiblich, dieses Charisma verwehrt!