Bibelessay zu Nehemia 8, 2 - 4a.5 - 6.8 -10

Nehemia und Esra. Wer von den beiden noch nicht viel gehört hat, ist möglicherweise in der christlichen Tradition aufgewachsen. In der jüdischen Tradition ist das ganz anders. Hier sind die beiden, ganz besonders Esra, herausragende Lichtgestalten aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.

Nichts war Israel geblieben, was bis zur Zerstörung Jerusalems und der Verschleppung ins Exil nach Babylon Identität gestiftet hatte – kein Tempel, kein König, kein Land. Viele Jahre später erst konnten sie aus dem Exil zurückkehren. Esra und Nehemia wurden dann die religiösen und politischen Architekten eines Neuanfangs. Nehemia, ein babylonischer Jude, war - salopp formuliert - verantwortlich als Bürgermeister von Jerusalem für den Wiederaufbau und als Landeshauptmann für die Provinz Juda. Der Name Nehemia bedeutet „Gott tröstet“, der Name Esra wiederum bedeutet „Der Herr hilft.“

Martin Jäggle
ist katholischer Theologe und Religionspädagoge

Berührende Wirkung

An diesem Abschnitt des Buches Nehemia orientieren sich sowohl der jüdische Synagogengottesdienst als auch der christliche Wortgottesdienst. Hier wird idealtypisch die erste öffentliche Lesung der Heiligen Schrift geschildert. Auf den Wunsch des Volkes hin liest der Priester und Schriftgelehrte Esra die Weisung vor. Er liest ganz unterschiedlichen Menschen vor: „Männer und Frauen und überhaupt allen, die schon mit Verstand zuhören konnten.“ (V. 2) Auch Kinder könnten dabei gewesen sein. Nach der abschnittsweisen öffentlichen Lesung wird der Text in Gruppen erklärt, “sodass die Leute das Vorgelesene verstehen.“ (V. 8) Von Anfang an gehört im Gottesdienst zur Lesung der Schrift die Auslegung der Schrift dazu.

Das alles hat eine berührende Wirkung: „Alle Leute weinten nämlich, als sie die Worte der Weisung hörten.“ (V. 9) Es waren Tränen der Trauer über das eigene Versagen in der Geschichte des Volkes Israel, ihre Untreue gegenüber Gott. Vielleicht waren es auch Tränen der Wut über das zahllose Leid der Vergangenheit oder Tränen der Freude, weil die Geschichte Israels mit Gott nun eine Zukunft hat.

Festliches Mahl und süßer Wein

Und das alles hat Folgen: „Seid nicht traurig und weint nicht“ (V. 9), sagten Nehemia und Esra zum Volk und forderten es auf, ein festliches Mahl zu halten und süßen Wein zu trinken. So ein Fest ist sozialpflichtig: Denen, die selbst nichts haben, sollen sie auch etwas geben, „denn es ist ein heiliger Tag zur Ehre unseres Herrn.“ Obwohl damals die politische Lage und die sozialen Spannungen in Jerusalem genug Grund zur Sorge gaben, sagten die beiden: „Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ (V. 10)

Lebenskunst
Sonntag, 27.1.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Berührt von der Weisung des Herrn sich freuen, feiern und dementsprechend handeln. Ein Ideal, aber keine Sorge. Die hebräische Bibel kennt auch die Realität des Scheiterns und unbeirrt benennt sie den Grund der Freude. Das zu entdecken ist für mich gerade heute wichtig am Holocaust-Gedenktag. Am 27. Jänner 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit.