Fremdheit und dunkle Tränen

Zum 150. Geburtstag von Else Lasker-Schüler: „Meine Sehnsucht will nicht enden!“ – Dieser Satz eines Gedichts von Else Lasker-Schüler nennt den Motor ihres Lebens und Schreibens.

In liebender Verbundenheit, im Blick auf die Bibel und auf Jerusalem und in ihrem Schreiben glüht eine unauslöschbare Sehnsucht. Sie prägt auch noch das Altersgedicht „Ich schlafe in der Nacht“ – auch wenn in der ersten Strophe viel von Fremdheit und von dunklen Tränen die Rede ist:

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Ich schlafe in der Nacht

Ich schlafe in der Nacht an fremden Wänden
Und wache in der Frühe auf an fremder Wand
Ich legte mein Geschick in harten Händen
Und reihe Tränen auf, so dunkle Perlen ich nie fand

Ich habe einmal einen blauen Pfad gekannt
Doch weiß ich nicht mehr, wo ich mich vor dieser Welt befand.
Und - meine Sehnsucht will nicht enden!...

Vom Himmel her sind beide wir verwandt
Und unsere Seelen schweben übers heilige Land
In einem Sternenkleide leuchtend um die Lenden.

Das eine, gemeinsame Sternenkleid, das um die Lenden leuchtet, und die Verwandtschaft vom Himmel her – die Heiligkeit des Eros kann man kaum auf ein schöneres Bild bringen. Und das Heilige Land, über das die Seelen der Liebenden schweben, ist wohl ebenso Palästina wie es das Land der Liebe ist.

Wie in dem Gedicht „Mein blaues Klavier“ taucht wieder die Erinnerung an die Farbe Blau auf – die Lieblingsfarbe der Romantik und die Farbe des Bildes „Der blaue Reiter“ von Franz Marc, die einer ganzen Künstlergruppe den Namen gegeben hat. Die Erinnerung ist so fern, dass das Ich des Gedichts nicht mehr weiß, wo es sich vor dieser Welt befand. Aber es weiß: Die Sehnsucht will nicht enden. Else Lasker-Schüler hat viele persönliche Tragödien erlebt und musste als alte Frau der Shoa von Jerusalem aus tatenlos zusehen; in Jerusalem, das sie Zeit ihres Lebens gesucht und idealisiert hat, ist sie verarmt und einsam in der Fremde gestorben. Und doch lautet ihre Grundbotschaft: Die Liebe leuchtet vom Himmel her, und die Sehnsucht will nicht enden.

Buchhinweis:

Cornelius Hell, „Ohne Lesen wäre das Leben ein Irrtum. Streifzüge durch die Literatur von Meister Eckhart bis Elfriede Gerstl“, Verlag Sonderzahl (ab März 2019)

Musik:

„Enfants D’Orient“ von Renaud Garcia–Fons
Label: CEZAME - Music Agency